Der vorletzte Buchstabe des Alef-ba
Touran Mirhadi ist eine hochgewachsene Frau, die trotz ihrer 81 Jahre stets kerzengerade vor all den Personen sitzt, die auf Zehnspitzen im Fünfminutentakt ihr türloses Büro betreten. Umringt von Enzyklopädien aus aller Welt läßt sie jedem Besucher ihre freundliche Aufmerksamkeit zukommen.
"Die Arbeitsgruppe will nun doch den Artikel über traditionelle Medizin schreiben?", versichert sie sich bei ihrer Assistentin, die ihr ein Memorandum zur Kenntnisnahme vorgelegt hat. "Das erscheint mir sehr vernünftig, alternative Medizin wird neuerdings ja auch hier an der Teheraner Universität gelehrt."
Kaum ist die Assistentin entschwunden, stellt sich eine Studentin vor. Die Biologin im fünften Semester möchte reinschnuppern ins Enzyklopädie-Projekt. Rund 90 Prozent der 250 ehrenamtlichen Mitarbeiter der NGO sind Frauen. Gegliedert in 35 Spezialistengruppen schreiben sie an der ersten persischen Enzyklopädie für Kinder und Jugendliche.
Ein Mammutprojekt: in 25-jähriger Arbeit konnten bislang zehn der geplanten 27 Bände veröffentlicht werden. Inzwischen erscheinen sogar zwei Bände jährlich, obwohl es keine staatliche Unterstützung gibt – private Förderer und das Engagement der vielen Helfer machen es möglich.
Preisgekrönte Projektarbeit
In einer Vitrine im Eingangsbereich sind Geschenke und Preise ausgestellt. Die Sekretärin ist besonders auf die Auszeichnung zum Buch des Jahres stolz, die man 1998 erhielt. Das Gratulationsschreiben des damaligen Präsidenten Chatami, der wenigstens nie müde wurde, auf die fundamentale Rolle einer Kultur des Lesens für das Funktionieren kritischer Öffentlichkeit hinzuweisen, unterstreicht die Bedeutung der Auszeichnung: Eine bahnbrechende Leistung, von der immer mehr Schüler, Lehrer und Eltern landesweit profitieren.
"Wir waren die Kinder einer besonderen Phase der iranischen Historie", erinnert sich Touran Mirhadi in akzentfreiem Deutsch an ihre Jugend. Nur bei Latinismen verrät ein französischer Hauch, dass die 1927 als jüngstes Kind von Grete Dietrich und Fazlollah Mirhadi in Teheran geborene Deutsch-Iranerin an der Sorbonne studiert hat.
"Es war die Phase, in der man uns lehrte, dass wir Iraner kulturell nichts geleistet haben", sagt sie über ihre Schulzeit. "Deshalb sollten wir alles von den Europäern imitieren." - Wie ihr Vater, der 1909 mit einem Stipendium ins Deutsche Kaiserreich kam, um Maschinenbau zu studieren. Als er nach dem Ersten Weltkrieg mit seiner Frau nach Teheran zurückkommt, steht die Ära Reza Schahs bevor, der in den zwanziger und dreißiger Jahren die Modernisierung Irans zum säkularen Nationalstaat voranpeitscht.
Kulturelle Entfremdungstendenzen
"Intellektuelle und Lehrer bemerkten als erste, dass die Entfremdung vom kulturellen Herkommen eine Gefahr darstellt", berichtet Mirhadi vom langen Heranreifen des Enzyklopädie-Projekts. Die Übersetzungen ausländischer Enzyklopädien, in denen der Leser immer wieder mit Dingen und Sichtweisen konfrontiert werde, die seinem kulturellen Horizont fremd seien, überzeugte sie schließlich von der Notwendigkeit, eine genuin persische Enzyklopädie zu erarbeiten.
Doch es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis zu Beginn der Achtziger die entsprechenden Rahmenbedingungen vorlagen. Bis dahin veröffentlichte die Pädagogin Lehrbücher und leitete eine renommierte Schule, in der sie auf Selbstverwaltung und Gruppenarbeit setzte.
In der "Enzyklopädie für Kinder und Jugendliche" hat heute jeder dritte Artikel Iranbezug. "Wir alle nehmen hier an einem Lernprozess teil, durch den wir unser Erbe wieder aneignen", sagt Mirhadi.
Obwohl das Genre der Enzyklopädie der persischen Literaturgeschichte nicht fremd ist – schon Avicenna verfaßte zu Beginn des Hochmittelalters enzyklopädische Werke –, begann die Veröffentlichung der ersten, nach modernen Standards verfaßten Enzyklopädie erst 1966 als Übersetzung der Concise Columbia Viking Desk Encyclopedia, die allerdings um zehntausend, von iranischen Experten verfaßte Originalartikel ergänzt wurde.
Seit der Revolution wurden einige ambitionierte enzyklopädische Projekte gestartet, die zumeist einen zwölferschiitischen Standpunkt inkorporieren, aufgrund ihres Fokus auf die islamische Welt jedoch keine Universalenzyklopädien darstellen.
Die Spezialistengruppe, in der es zu den meisten Diskussionen kommt, ist jene der Historiker – obwohl man doch, wie es Mirhadi ausdrückt, um eine Art der Geschichtsschreibung bemüht sei, die sich an "elementaren Fragen und Fakten" orientiert. Die Ansprüche an Belege sind hier besonders streng und der Argumentationsbedarf höher als bei ideologie-resistenten Wissensstoffen.
In einem Land, dessen größte Herausforderung langfristig nur darin bestehen kann, seine jüngste Vergangenheit aufzuarbeiten und sich die Frage nach integrativen Traditionen politischer Identitätsbildung zu beantworten, könnte die Enzyklopädie Pionierarbeit leisten.
Erst zuletzt scheiterte ein Antrag im Teheraner Stadtrat, mit einer Straße des 1953 vom CIA im Auftrag des Vereinigten Königreichs geputschten Premierministers Mossadegh zu gedenken. In der Frühphase der Revolution war der ehemalige Pahlavi-Boulevard nur kurz nach dieser Symbolfigur eines demokratischen Iran benannt worden, bevor die Hauptschlagader der Kapitale den Namen "Vali-Asr" erhielt, um den zwölften Imam als "Schutzherrn der Epoche" zu ehren.
Schweigen über den Holocaust
Kaum weniger problematisch ist die Welthistorie. Der Redefluß stockt, als wir auf den Holocaust zu sprechen kommen. "Nein, dazu gibt es keinen Artikel", sagt die schlicht gekleidete Frau reglos, die ihre Worte sonst gern mit den Händen unterstreicht. Nein, es ist auch nichts geplant", präzisiert sie auf Nachfrage, dazumal der Buchstabe "he" der vorletzte des arabisch-persischen "Alefba" ist.
Etwas halbherzig verweist sie auf den Deutschland-Artikel im dritten Band. Darin wird Adolf Hitler zwar unmissverständlich als verbrecherischer Diktator dargestellt und auch der Massenmord an Juden, Sinti, Roma und Menschen anderer Ethnien und Parteien erwähnt. Industrielle Monströsität und Grausamkeit des nationalsozialistischen Rassenwahns werden allerdings weder erwähnt, geschweige denn beschrieben.
Warum nicht? Touran Mirhadi lehnt sich zurück und zurrt ihr Kopftuch fest, das sie mit einem starken Knoten am Hals zu binden pflegt. Ein für beide Seiten unangenehmer Moment der Reflexion.
Hat es sie nicht peinlich berührt, wie Ahmadinedschad zu sprechen wagt? Sieht sie nicht den Abgrund historischer Unwissenheit, der bezüglich des Holocaust in der iranischen Gesellschaft besteht? Ist es da nicht ein tragischer Fehler, der iranischen Jugend die Geschichte der europäischen Juden zu verschweigen und so die Möglichkeit zu nehmen, die alles überschattende politisch-moralische Erfahrung der westlichen Welt im 20. Jahrhundert begreifen zu können?
"Der Zweite Weltkrieg hat mich verstört", hebt Mirhadi nach einer Pause an. "Ich frage mich bis heute nach den Ursachen all dieser Gewalt." Entschlossen erklärt sie ihr pädagogisches Engagement als Folge dieser Erschütterung und auf dem Hintergrund der Überzeugung, die Katastrophen des 20. Jahrhunderts seien auf eine verfehlte Erziehung zurückzuführen:
"Wenn Menschen keinen eigenen Willen entwickeln, werden sie manipulierbar", sagt sie, die im zehnten Kapitel ihres Buches "Mutter – Fünfzig Jahre Leben im Iran" luzide geschildert hat, wie ihre Mutter von den Männern im stadtbekannten "Braunen Haus" von der Notwendigkeit eines Großdeutschlands überzeugt wurde, das seiner Bestimmung gemäß zur Weltmacht aufsteigen müsse.
Die kleine Touran fühlt sich bald ermuntert, jüdische Klassenkameraden zu trietzen. Doch eine mutige jüdische Mitschülerin – Mirhadi erwähnt sie in ihrem Buch zum Dank namentlich – habe sie bald von der Absurdität des Antisemitismus überzeugt.
Die Frage, weshalb genau es in der "Enzyklopädie für Kinder und Jugendliche" keinen Artikel über den Holocaust geben soll, bleibt unbeantwortet. Vielleicht weil ein einziger, nach 'zionistischer Konspiration' riechender Artikel verursachen kann, dass das Ministerium für Kultur und islamische Führung keine Druckgenehmigung mehr erteilt. Vielleicht, weil Mirhadi glaubt, schon mit dem Deutschland-Artikel ein Zeichen gesetzt zu haben.
Ganz gewiß aber auch deshalb, weil sie als Iranerin an ganz andere politisch-moralische Fundamentalerfahrungen denkt, um die sich das Langzeitgedächtnis einer Nation und des sie umgebenden Kulturkreises gruppiert. "Kennen Sie das Buch Bekenntnisse eines Economic Hit Man?", fragt sie zuletzt, bevor sie uns das Textarchiv zeigt.
Alessandro Topa
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de