Islamische Geschichte: Plädoyer für mehr Nüchternheit

In seinem Essay plädiert David Neuwirth für einen nüchternen Blick auf die islamische Geschichte, der ohne europäische Kategorien und ohne Europa als Vergleichsmaßstab auskommt.

Essay von David Neuwirth

Jeder kennt wahrscheinlich die Gegenüberstellung: Die in Saudi-Arabien verhängten Strafen seien ähnlich oder gleich brutal wie im sog. Islamischen Staat. In Saudi-Arabien gibt bis heute die puritanische Strömung des Wahhabismus den Ton an, die im 18. Jahrhundert entstand. Ihr Ziel war schon damals eine Reinigung des Islam von allen Neuerungen, wie der Islamwissenschaftler Muhammad Sameer Murtaza in seinem fundierten Artikel auf islam.de erklärt. Um 1746 wurde der Wahhabismus zur vorherrschenden Glaubensströmung auf der Arabischen Halbinsel.

Die Wahhabiten überfielen schiitische Muslime, sie plünderten Städte und zerstörten 1802 sogar das Grab von Hussain in der irakischen Stadt Kerbela, eines der bedeutendsten schiitischen Heiligtümer. Erst ägyptische Truppen, die vom osmanischen Kalifen entsendet worden waren, konnten die Gewaltexzesse beenden. All dies passierte in der vormodernen und vorkolonialen Zeit.

Wahhabismus als Hauptquelle des Fundamentalismus

Muhammad Sameer Murtaza weist in seinem oben erwähnten Artikel auf einen weiteren interessanten Aspekt hin: Muhammad ibn Abd Al-Wahhab, der Begründer des Wahhabismus, hat seine Sekte nicht aus dem Nichts geschaffen. Vielmehr stützte er sich auf den Rechtsgelehrten Ibn Taimiyya (1263-1328), der Muslime mit abweichenden Meinungen zu Ungläubigen erklärte und zum gewaltsamen Jihad gegen die Mongolen aufrief. Abd Al-Wahhab berief sich für den Wahhabismus auf die hanbalitische Rechtsschule, die auf Ahmad ibn Hanbal im 8. Jahrhundert zurückgeht, so argumentiert die Islamwissenschaftlerin Ulrike Freitag.

Nach Ibn Hanbal verdienen beispielsweise alle diejenigen, die nicht beten, die Todesstrafe. Heute zitieren sowohl  Pierre Vogel als auch IS-Unterstützer Ibn Taimiyya.

Tauben fliegen von einer Moschee in Saudi-Arabien (Foto: picture-alliance/AFP Creative/H. Ammar)
Der einzig wahre Glauben ist der Islam aus der Zeit des Propheten Mohammed (570-632) - darin sind sich Wahhabismus und der Salafismus einig. Ausschließlich der Koran, die überlieferten Handlungen und Aussagen Mohammeds, die sogenannten Hadith, sind für beide sunnitischen Strömungen Maßstab in Religion und Gesellschaft

Für die britische Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong stellt der saudi-arabische Export des Wahhabismus in alle Welt die Hauptquelle des globalen Terrorismus dar. Am Beispiel des Wahhabismus und seiner geistigen Wurzeln zeigt sich also, wie weit die Quellen des islamischen Fundamentalismus in die Vergangenheit reichen. Trotzdem begegnet man immer wieder der These, dass dieses Phänomen modern und erst im letzten Jahrhundert entstanden sei.

Wenn aber der Wahhabismus in der vormodernen, vorkolonialen Zeit entstanden ist, gegen welche Neuerungen richtete er sich dann? Er wandte sich gegen die Verehrung von Heiligen und Götzenanbetung, gegen Gräberkult, Musik - mit Ausnahme von Trommeln - und gegen die Verzierung von Moscheen, den Sufismus und alle „Abweichler“, auch Schiiten.

Der Begriff von den „verwerflichen Neuerungen“ (bi’da) ist so alt wie der Islam selbst und entstammt dem Koran. Trotzdem wird behauptet, es sei ein Fehler, im islamischen Fundamentalismus eine Rückkehr in die Vergangenheit zu sehen. Was ist es denn anderes als eine  – behauptete – Rückkehr in die Vergangenheit, wenn Abd Al-Wahhab einen Begriff aus dem Koran aufgreift und seine Lehre mit Ibn Taimiyya begründet?Salafiyya als innerislamische Reform

Der Islamwissenschaftler Frank Griffel schrieb jüngst in der Süddeutschen Zeitung, dass die Forderung nach Reformation und Aufklärung im Islam aus der Kenntnis vormoderner islamischer Gesellschaften heraus sinnlos sei. Zur Begründung führte er an, dass es in der islamischen Welt vor der Konfrontation mit dem Kolonialismus nie eine Situation gab, in der Reformation und Aufklärung nötig gewesen wären.

Das ist eine brisante These. Nicht nur deshalb, weil die Grundlagen des heutigen islamischen Fundamentalismus genau in dieser nachklassischen, vorkolonialen Zeit geschaffen wurden. Vor allem aber weil der Wahhabismus genauso für eine innerislamische Reform stand, die der Islam nach Frank Griffel angeblich nicht nötig hatte.

Dabei war der Wahhabismus gar nicht die einzige Reformbewegung. Muhammad Sameer Murtaza schreibt in einem Artikel für Die Zeit, dass es schon seit rund 270 Jahren in der muslimischen Welt Erneuerungsbewegungen unter dem Sammelbegriff Salafiyya gibt. Wären diese sinnlos, hätte es sie nicht gegeben.

Selbstverständlich sind die Begründer diese Erneuerungsbewegungen nicht mit Luther vergleichbar. Man muss solche Phänomene stets aus der eigenen Zivilisation heraus verstehen. Zur Salafiyya gehören neben den puritanischen Wahhabiten (aus der Zeit vor dem Kolonialismus) zum Beispiel die Muslimbrüder (aus der Zeit des Kolonialismus), der progressive Denker und Demokrat Jamal Al-Din al-Afghani (aus der Zeit des Kolonialismus) oder die revolutionäre Bewegung Hizb At-Tahrir (aus der Zeit nach dem Kolonialismus).

Sowohl Hizb At-Tahrir als auch den sog. Kalifatstaat von heute ordnet Muhammad Sameer Murtaza einer Bewegung von Ideologen zu, die in den 1950er bis 1970er Jahren in den arabischen Ländern Repressionen ausgesetzt waren. Mohammad Gharaibeh, Islamwissenschaftler an der Universität Bonn, ergänzt, dass diese Ideologen im Zuge ihrer Verfolgung in den arabischen Ländern nach Saudi-Arabien flohen, wo es zu einer starken ideologischen Vermischung mit dem Wahhabismus kam.

Europäische Kategorien greifen nicht

Es ist Aufgabe von Islamwissenschaftlern, die geschichtlichen Besonderheiten der vormodernen muslimischen Gesellschaften zu beleuchten. Als Besonderheit fällt insbesondere eine Aversion gegenüber schriftlichen Erzeugnissen in der Sprache des Koran auf. So kannte der nachklassische Islam zwar keinen Index verbotener Bücher, dafür war aber der Buchdruck in arabischen Schriftzeichen – damals der gängigen Schrift im Osmanischen Reich – bis 1727 bei Todesstrafe verboten.

Indonesien Sonnenfinsternis (Foto: Reuters)
Vormoderne islamische Gesellschaften brauchten weder Reformation noch Aufklärung, meint der Islamwissenschaftlers Frank Griffel, Professor für Islamwissenschaften an der Yale-Universität. Denn sie seien frei von jenen Missständen gewesen, die in Europa zur Aufklärung führten.

Das Osmanische Reich war in der nachklassischen Periode das größte islamische Imperium, dessen Herrscher um 1460 das Kalifat, also die Bewahrung des Erbes des Propheten, übernahmen. Im Osmanischen Reich nahm die politische Macht durchaus massiven Einfluss auf das religiöse und kulturelle Denken.

Als 1727 Sultan Ahmed III. den Buchdruck in arabischen Schriftzeichen gestattete – nur der Koran und sakrale Texte waren ausgenommen - stand die Buchproduktion unter der strikten Kontrolle der Schriftgelehrten. Die erste zugelassene Druckerei in Istanbul musste 20 Jahre später wieder schließen.

Als 1784 eine zweite Druckerei eröffnet wurde, richtete Sultan Abdulhamid II. einen Rat der Zensoren ein, der die gedruckten Inhalte kontrollierte. Daher wurde der Koran zunächst nur in nicht-muslimischen Ländern von Nicht-Muslimen gedruckt und von Muslimen erstmals im Jahr 1828 in Teheran vervielfältigt.

Die Existenz des Osmanischen Reichs kann eine Antwort auf die Frage geben, wieso es in vormodernen muslimischen Gesellschaften keine Religionskriege wie in Europa gegeben hat. Das Osmanische Reich stand damals im Zenith seiner Macht. Der sunnitische Islam war die Staatsreligion im Osmanischen Reich, das große Teile der vormodernen muslimischen Welt dominierte.

Die Osmanen setzten sunnitische Gouverneure im mehrheitlich schiitischen Irak ein, verfolgten schiitische Sekten wie die Hurufiyya, die in Persien und Anatolien verbreitet war, deportierten Anhänger der alevitischen Sekte Qizilbāsch in die neu eroberten Gebiete Griechenlands und führten einen Krieg gegen die schiitische Fürstendynastie der Safawiden in Persien.

 Andererseits haben die Osmanen später ihre radikalen Glaubensbrüder aufgehalten, wenn diese drohten zur Konkurrenz zu werden – deshalb kam es zum osmanisch-saudischen Krieg, der im Jahr 1818 mit der Enthauptung von Abdallah I. ibn Saud in Istanbul endete. Dies war ein wichtiger Wendepunkt. Die islamischen Fundamentalisten mussten eine Niederlage hinnehmen und der Sieger war niemand anderer als das nach damaligen Maßstäben tolerante Osmanische Reich.

So gab es zum Beispiel keine massenhaften Zwangsbekehrungen während der Herrschaft der Osmanen.  Zwangsbekehrungen fanden in der Vormoderne nur unter der schiitischen Herrschaft der Safawiden in Persien statt. In die Zeit der Vormoderne fallen auch die Eroberungskriege des Osmanischen Reichs gegen den persischen Herrscher und späteren Eroberer von Teilen Indiens ,Nadir Schah, der seinerseits zuvor die pashtunische Hotaki-Dynastie besiegte und sie zum Rückzug aus Teilen des heutigen Irans zwang.

Die Zeit der Vormoderne in der islamischen Welt war also sicher nicht frei von Gewalt, nur hatte diese Gewalt eben einen anderen Charakter, andere Motive und eine andere Ausprägung als in Europa. Nicht alles läuft genauso ab wie in Europa. Wenn der westliche Betrachter dies akzeptiert, dann kann ihm das zu einem nüchternen Blick auf die islamische Geschichte verhelfen.

David Neuwirth

© Qantara.de 2016

David Neuwirth ist ein deutscher Jurist, zurzeit in Frankreich berufstätig. Während seines Studiums in Deutschland war er in einer Plattform für interreligiösen Dialog engagiert.