Enthemmung in Nahost 

Eine carte blanche für Netanjahu birgt Risiken. Das gilt auch und gerade für den Militäreinsatz in Gaza. Die westlichen Regierungen müssten das eigentlich wissen. Ein Zwischenruf von Stefan Buchen   
Eine carte blanche für Netanjahu birgt Risiken. Das gilt auch und gerade für den Militäreinsatz in Gaza. Die westlichen Regierungen müssten das eigentlich wissen. Ein Zwischenruf von Stefan Buchen   

Eine carte blanche für Netanjahu birgt Risiken. Das gilt auch und gerade für den Militäreinsatz in Gaza. Die westlichen Regierungen müssten das eigentlich wissen. Ein Zwischenruf von Stefan Buchen

Von Stefan Buchen

Mehr als 1.000 israelische Zivilisten sind einem sadistischen Blutrausch der palästinensischen Hamas zum Opfer gefallen. Die Bundesregierung muss den Angehörigen der Opfer ihr Mitgefühl und der trauernden Nation ihre Solidarität erklären. Sie muss die terroristischen Taten verurteilen und Israel konkrete Unterstützung anbieten. Sie muss das Recht Israels auf Selbstverteidigung unterstreichen. Das hat sie getan.  

Aber die Regierung Scholz und die gesamte deutsche Politik gehen, wie andere westliche Staaten auch, einen entscheidenden und möglicherweise fatalen Schritt darüber hinaus. Sie geben der rechtsnationalen israelischen Regierung unter dem umstrittenen Premierminister Benjamin Netanjahu freie Hand im Krieg gegen den Gazastreifen, den die Hamas kontrolliert und aus dem ihre Terrortruppe sich am Morgen des 7. Oktober zu ihrem Gemetzel aufgemacht hat.

Washington, Berlin und andere westliche Hauptstädte signalisieren Netanjahu, dass er den Krieg gegen Gaza führen kann, wie er will. Mit Kritik braucht der israelische Regierungschef nicht zu rechnen. Damit ermuntern die westlichen Verbündeten Netanjahu zu einem zügellosen Vorgehen, dessen Folgen nicht absehbar sind. Diese westliche carte blanche, unter die Olaf Scholz ohne zu zögern seine Unterschrift setzt, ist aus einer Reihe von Gründen zu hinterfragen.  

Premierminister Netanjahu hat in Worten und auch bereits in Taten erkennen lassen, dass er den Krieg gegen die Hamas zügellos und unter Missachtung des Kriegsvölkerrechts zu führen gedenkt. Die exzessive Bombardierung von Wohngebieten sowie die Kappung der Zufuhr von Strom, Treibstoff, Lebensmitteln und Wasser deuten darauf hin, dass alle zwei Millionen Bewohner des isolierten Küstenstreifens Zielscheiben dieses Feldzuges sind.  

Israael hat die Menschen im Norden des gaza-Streifens aufgefordert, sich in den südlichen Teil zu begeben; Foto; AFP via Getty Images
Israel hat rund 1,1 Millionen Menschen im nördlichen Teil des Gazastreifens aufgefordert, sich wegen einer bevorstehenden Bodenoffensive in den Süden des Gazastreifens zu begeben. UN-Organisationen haben die israelische Regierung dringend gebeten, diesen Befehl zurückzunehmen. "Es könnte sonst aus einer Situation, die bereits jetzt eine Tragödie ist, eine Katastrophe werden“, sagte eine Sprecherin in Genf.

Gaza: Von der Außenwelt abgeschnitten

Netanjahu hat die Bewohner der Stadt Gaza in seiner ersten Rede nach dem Überfall der Hamas aufgefordert, diese zu verlassen. Das wirft die Frage auf, wo die Menschen denn, im am dichtesten besiedelten Areal der Erde, das von der Außenwelt abgeschnitten ist, hingehen sollen, zumal die israelische Luftwaffe nicht bloß die Stadt Gaza, sondern sämtliche Teile des Palästinensergebietes bombardiert.

Dem folgte einige Tage später die Aufforderung an die Bewohner des gesamten nördlichen Gazastreifens, mehr als eine Million Menschen, ihre Wohnungen zu verlassen. Dies deutet auf eine Massenvertreibung hin. In dialektischer Anlehnung an Mao scheint Netanjahu den Gazastreifen als einen Teich zu betrachten, den er trockenlegen will, um die Fische darin, die Hamas, zu vernichten.  

Netanjahu hat wörtlich angekündigt, dass der Gegenschlag in den Reihen des Feindes noch einige Generationen später nachhallen wird. Sein Verteidigungsminister Yoav Gallant ließ sich dabei filmen, wie er Offizieren befahl, die Samthandschuhe auszuziehen.

Sein Finanzminister Bezalel Smotrich, ein nationalreligiöser Scharfmacher, hat verlangt, bei der Kriegsführung auf das Schicksal der Entführten - mehr als 100 Israelis wurden von den Hamas-Terroristen nach Gaza verschleppt - nicht zu viel Rücksicht zu nehmen.

Auf Medienkanälen, die der nationalreligiösen Tendenz der Regierung Netanjahu das Wort reden, vor allem auf dem TV-Sender "14", fordern "Experten" und "Analysten", den Gazastreifen dem Erdboden gleichzumachen und aus dem Wettbewerb um den Rang der "moralischsten Armee der Welt" endlich auszusteigen. Kurzum, es gibt Anzeichen genug um anzunehmen, dass der Feldzug sehr blutig wird. Soll man Netanjahu und seine Leute ernsthaft auf diesem Weg bestärken? 

Keine politische Einigkeit

Einigkeit herrscht unter der israelischen Bevölkerung in ihrem Entsetzen über die mörderische Brutalität der Attacke vom 7. Oktober. Hunderte, die zusammengeschossen werden, ausgelöschte Familien, abgeschlachtete Kinder, Verzweifelte, die sich vor den kaltblütigen Mördern in Schränken und Mülleimern verstecken - all dies weckt bitterste Erinnerungen an die Schoah. Über diese Assoziationen wird nicht viel gesprochen. Gerade das zeigt, dass diese Assoziationen da sind. Aber aus der Einigkeit im Entsetzen darf nicht auf eine politische Einigkeit geschlossen werden. Das Gegenteil ist der Fall.  

Viele bekannte Persönlichkeiten haben Netanjahu seit Beginn des Krieges zum Rücktritt aufgefordert: der ehemalige Generalstabschef Moshe Yaalon, der Historiker Yuval Harari, der politische Kommentator Yossi Werter.

Grafik mit Israel, den besetzten Gebieten in der Westbank und dem Gazastreifen; Quelle: DW
Der Gazastreifen, das am dichtesten besiedelte Areal der Welt: "Washington, Berlin und andere westliche Hauptstädte signalisieren Netanjahu, dass er den Krieg gegen Gaza führen kann, wie er will", schreibt Stefan Buchen. "Mit Kritik braucht der israelische Regierungschef nicht zu rechnen. Damit ermuntern die westlichen Verbündeten Netanjahu zu einem zügellosen Vorgehen, dessen Folgen nicht absehbar sind. Diese westliche carte blanche, unter die Olaf Scholz ohne zu zögern seine Unterschrift setzt, ist aus einer Reihe von Gründen zu hinterfragen.“ 



Der auf die arabischen Nachbarn spezialisierte Journalist Zvi Bar'el fragt kritisch, wie es nach dem Feldzug mit dem Leben der Palästinenser in Gaza weitergehen soll und welche Rückwirkungen eine Zerstörung des Gazastreifens auf die israelische Gesellschaft haben wird.

Sein Kollege Amos Har'el zeigt auf, dass die Entourage von Netanjahu auf Social Media versucht, die Schuld am ungehinderten Einbruch der Hamas auf israelisches Territorium denjenigen in die Schuhe zu schieben, die monatelang gegen ihn demonstriert haben.

Auch im Krieg sät Netanjahu Hass in der eigenen Gesellschaft. Der Historiker Moshe Zimmermann spricht von einem "Versagen des Zionismus". Der Staat Israel sei das Versprechen an seine Bürger, dass sie dort sicher sind vor Pogromen gegen Juden. Netanjahu habe dieses Versprechen gebrochen.  

Netanjahus Legitimität ist angekratzt

Fakt ist, dass der Staat an jenem mörderischen Morgen nicht da war, um seine Bürger zu schützen. Der Verdacht liegt nahe, dass Netanjahu den Staat mit seiner Fanatiker-Regierung heruntergewirtschaftet hat. Er besetzt hohe Posten nach persönlicher Ergebenheit, nicht nach Kompetenz. Die Ernennung von Gal Hirsch zum Sonderbevollmächtigten für die Entführten und Vermissten ist das jüngste Beispiel. Netanjahus Legitimität ist angekratzt. Darüber kann auch die Bildung eines "Notstandskabinetts", dem der Oppositionspolitiker und ehemalige Verteidigungsminister Benny Gantz beigetreten ist, nicht hinwegtäuschen.  

In dieser Situation tun die westlichen Verbündeten von Washington bis Berlin so, als sei Netanjahu unangefochten und sie geben ihm grünes Licht für einen uferlosen Gegenschlag in Gaza. Als hätten Biden, Macron und Scholz plötzlich vergessen, dass sie es mit einem Partner zu tun haben, der es liebt, mit dem Feuer zu spielen.

 

A basic rule of international humanitarian law: war crimes by one side do NOT justify war crimes by the other. Just because Hamas fired indiscriminately on Israeli civilians does NOT justify Israel firing indiscriminately on civilians in Gaza. https://t.co/t7R6afOnQK

— Kenneth Roth (@KenRoth) October 8, 2023

 

Die westlichen Regierungen weichen der bohrenden Frage aus, ob Netanjahu Israel überhaupt noch repräsentiert. Er selbst nutzt in unnachahmlicher Manier den Zuspruch, den er persönlich von den Regierungschefs der Welt bekommt, um seine politisch angeschlagene Position zu festigen.  

Einige westliche Kommentatoren haben von "Israels 11. September" gesprochen. Der Vergleich könnte, wenn man die Oberfläche verlässt, sogar lehrreich sein. Auf den 11. September 2001 folgte der "war on terror" mit den bekannten Folgen. Mit ihrer militärischen Überreaktion, vor allem mit der teuren und kontraproduktiven Besatzung des Irak, haben die Vereinigten Staaten ihre globale Vormachtstellung gefährdet, wenn nicht sogar eingebüßt. Allein dieser Zusammenhang hätte dazu führen können, die Solidaritätsbekundungen gegenüber Netanjahu mit gewissen Einschränkungen hinsichtlich des Vergeltungskrieges in Gaza zu versehen.  

Bundeskanzler Scholz scheinen solche Gedanken fern zu liegen. Das militärische Vorgehen Israels subsumierte er in seiner Regierungserklärung unter "Selbstverteidigung". Wie weit fasst Scholz diesen Begriff, möchte man fragen.

"In diesem Moment gibt es für Deutschland nur einen Platz, den Platz an der Seite Israels. Das meinen wir, wenn wir sagen: Die Sicherheit Israels ist deutsche Staatsräson“, erklärte Scholz im Bundestag. Er ergänzte, Netanjahu solle mitteilen, was er brauche. Man werde es ihm "gewähren". Hier zeigt sich, wie die Doktrin von der Sicherheit Israels als deutscher Staatsräson, die Angela Merkel ins Leben rief, zum Blankoscheck geworden ist. 

Die Ampel-Koalition von Olaf Scholz möchte die Einwanderung nach Deutschland begrenzen. Dieses Ziel wird durch die Eskalation in Nahost gefährdet. Ein hemmungslos geführter Vergeltungskrieg in Gaza könnte hunderttausende, wenn nicht Millionen neuer Flüchtlinge hervorrufen, die sich auf den Weg nach Europa machen. Längst zeichnet sich am Horizont eine große Frage ab, nämlich die, ob die Aufnahme der Palästinenser aus Gaza und vielleicht auch aus der Westbank zur deutschen Staatsräson gehört.   

Stefan Buchen 

© Qantara.de 2023 

Der Autor studierte 1993-95 Arabische Sprache und Literatur an der Universität Tel Aviv und arbeitete dann bis 1999 als Journalist in Israel und den Palästinensergebieten. Er spricht fließend Hebräisch und Arabisch. Er ist heute als Fernsehjournalist für das ARD-Magazin Panorama tätig.