Bei den Wilden von Kohistan
Jürgen Wasim Frembgen, Jahrgang 1955, gehört zu jenem Schlag von Wissenschaftlern, die in ihrem Fach tiefen Leidenschaften nachgehen und für die Forschung auch mit Selbsterkenntnis verbunden ist. Der Ethnologe mit einer Begeisterung für den Sufismus schreibt: "In Harban begann ich, meine Empfindungen und meine Subjektivität bei empirischen Forschungen nicht mehr zu verdrängen oder später im Schreibprozess zu eliminieren, sondern als Teil des Forschungsprozesses zu begreifen."
Das Harban-Tal in der nordpakistanischen Region Kohistan (Land der Berge) ist ein isolierter Landstrich, der kaum jemals von Fremden besucht wurde. Frembgen schildert seine Erlebnisse in diesen unwirtlichen Gefilden in dem Buch "Das verschlossene Tal".
Es ist der dritte Band in einer Reihe von Pakistan-Veröffentlichungen des Ethnologieprofessors und Leiters der Orient-Abteilung im Völkerkunde-Museum München. "Am Schrein des Roten Sufi" (2008) war eine Entdeckungsreise in die Wiege der indo-islamischen Mystik und "Nachtmusik im Land der Sufis" (2010) beleuchtete die Musikkulturen im pakistanischen Sufismus.
Pakistan als zweite Heimat
Pakistan ist für Frembgen zu einer zweiten Heimat geworden. Seit 1981 ist er alljährlich zu Forschungsaufenthalten dort und spricht fließend Urdu. Kohistan blieb aber noch lange ein weißer Fleck für den Deutschen. Die Region Kohistan ("Land der Berge") liegt abgeschieden am Nordlauf des Indus, rund 200 Kilometer Luftlinie von Islamabad entfernt. Viele Teile dieser Gegend sind schwer zugänglich, einige noch vollkommen unerforscht. Das weckt den Pioniergeist eines Ethnologen – schon sein Doktorvater hatte Frembgen dazu angeregt, Kohistan zu besuchen.
Unter Pakistanis gelten die Bewohner des Harban-Tals als unberechenbar, rückständig, rachsüchtig und grausam. Mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Vorsicht begibt sich Frembgen auf den Weg ins Ungewisse. Ausgestattet mit dem Empfehlungsbrief eines Richters erreicht er über Schotterpisten das Dorf, in dem er seine Erforschung beginnen möchte. Eindringlich beschreibt Frembgen, wie sich die misstrauischen Blicke anfühlen, die er dort als Ausländer erntet und wie schutzlos er als Neuankömmling diesem anderen Universum zunächst ausgesetzt ist.
Dann landet der Gast beim Maulvi, der ihn nach einer Willkommenspredigt für ein paar Tage bei sich aufnimmt. Sogleich macht sich der Sohn des Dorfgeistlichen daran, die Beine des Gasts zu massieren.
Frembgen schreibt von seinem Unbehagen in dieser kuriosen Situation: "Er arbeitet sich weiter vor bis zum Knie und gar bis zum Oberschenkel." Doch dann: "Ich begreife, dass diese Massage eine Aufmerksamkeit gegenüber einem müden Wanderer ist, der einen weiten Weg hinter sich gebracht hat."
Kulturschock Kohistan
Nach der ersten Nacht zeichnet sich die nächste Herausforderung ab: die Suche nach einem Platz für die Morgentoilette. Erst später muss Frembgen lernen, dass der Wald am Dorfrand als Toilette dient. Allerdings geschlechtergetrennt: Die Frauen sind noch in der Dunkelheit dran, und die Männer verrichten ihr Geschäft zu Anbruch des Tages.
Es ist spannend, diesen Prozess des Einlebens mitzuerleben. Langsam bricht das Eis und Frembgen gewinnt immer größeren Zugang zu den Harbanis. Von seinen Gastgebern erfährt er unverhoffte Gastfreundschaft und Zuneigung. Bei einer ausgelassenen Männerrunde stecken sich die Dorfjungen Blumen in die Hüte und tanzen im Wasserpfeifendunst zu Volksliedern. Hier werden die letzten Überbleibsel einer Volkskultur gelebt, die durch missionarische islamische Sittenreformen in den letzten Jahrzehnten weitestgehend verdrängt wurde.
Frembgens Erzählung zeichnet sich durch ein reiches Hintergrundwissen aus. Er bleibt nah an den Menschen, seine Beschreibungen sind einfühlsam und voller Respekt. Selbstkritisch wird immer wieder auch der eigene Blick hinterfragt: "Wenn ich die Welt dieses Bergvolks als ,unberührt’ wahrnehme, so muss ich dies im gleichen Atemzug relativieren, offenbart es doch meinen eigenen romantisch-exotischen Blick, meine Sehnsucht nach verlorener Ursprünglichkeit (...)."
Mit dieser Offenheit des Blicks gelingt es Frembgen sogar, einen Sufi aufzuspüren, der mit dem Deutschen die Liebe zum mystischen Islam teilt. Der Sufi Qayyum ist ein Exotiker in der Region, in der eine gesetzestreue Religionsauslegung die Oberhand hat.
In einer geschlossenen Gesellschaft
Eine Frau bekommt Frembgen kaum zu Gesicht. Als er doch einmal einer Bäuerin auf dem Feld begegnet, senkt er den Kopf und tritt einen Schritt zur Seite. Ein falscher Blick könnte fatal sein.
Das starke Traditionsbewusstsein der Menschen von Harban spiegelt sich am stärksten im Umgang mit dem Thema Ehre wieder. Frembgen wird selbst Zeuge einer blutigen Stammesfehde, gerät sogar in einen Schusswechsel. Wie so häufig ist eine außereheliche Beziehung der Auslöser.
In der geschlossenen Gesellschaft von Harban sind Affären ein riskanter Ausbruch aus dem engen Moralgefüge. Wie automatisch nimmt sich die Rachelogik ihren Lauf, denn Männer definieren Ehre hier vor allem über ihre Töchter und Ehefrauen. Wird auf die Ehrverletzung durch einen Fremdkörper nicht reagiert, so bringt man sich selbst und seine Familie in ewigen Verruf.
So bleibt am Ende ein ambivalentes Bild zurück. Frembgen hat nicht die Barbaren getroffen, vor denen er gewarnt wurde. Nicht das Diabolische und Böse an sich breche sich Bahn, so Frembgen, sondern es wirke ein "archaischer, unerbitterlicher Codex von Ehre und Moral, in den jeder Mann und jede Frau eingebunden ist".
Er beschönigt nichts, aber warnt durch seine klare Analyse auch vor weit gezogenen Rückschlüssen auf den Islam oder das Land Pakistan. Und zeigt uns, wie spannend und kritisch die Arbeit eines Ethnologen sein kann.
Marian Brehmer
© Qantara.de 2014
Jürgen Wasim Frembgen: "Das verschlossene Tal. Bei wehrhaften Freunden im pakistanischen Himalaja", Waldgut Verlag, Frauenfeld 2013, 144 Seiten, ISBN 978-3-03740-080-7
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de