Als "Märtyrer" missbraucht: Kindersoldaten im Jemen
Am Ende war Samir tot. Seinen Drang, im jemenitischen Bürgerkrieg auf Seiten der Huthis zu kämpfen, bezahlte der 15-Jährige mit dem Leben. In mehreren Sommercamps hatte er sich die Weltsicht der Aufständischen erklären lassen, ihren ideologisch geschulten Religionslehrern gelauscht, ihre Lehren vom "Dschihad" und vom Kampf zum Schutz der Heimat vernommen - und sich für ihn begeistert. Gott, so hatte er es sich von den Extremisten sagen lassen, heiße den Kampf gegen die offizielle jemenitische Regierung gut. Diese vermeintlichen Gewissheiten im Kopf, drängte es ihn an die Front, um selbst dort zu kämpfen.
Kinderleichnam übergeben
Dass ihr Sohn an den Sommercamps teilnehme, hätten er und seine Frau noch hingenommen, sagt Samirs Vater - seinen vollen Namen will er öffentlich nicht nennen - im Gespräch mit der Deutschen Welle. Als Samir dann aber erklärte, er wolle an die Front, sperrten sich die Eltern zunächst - allerdings erfolglos. Ihr Sohn ließ sich einfach nicht abhalten. Schließlich fügten sich die Eltern, auch weil Samir der verarmten Familie regelmäßig Geld schickte, das er an der Front verdiente und das die Familie in den anhaltend schweren Kriegs- und Krisenzeiten gut gebrauchen konnte. Zudem kam er alle paar Monate von der Front nach Hause.
Dann aber der Schock: Samir war an der Front gestorben, gefallen im militärischen Kampf. Huthi-Kämpfer übergaben den Eltern den Leichnam ihres Sohnes. Auf der Stirn des Verstorbenen haftete ein Band mit der Aufschrift "Märtyrer".
Samir ist nicht der einzige tote Kindersoldat in dem Viertel von Sanaa, in dem seine Familie lebt. Drei weitere Jungen - Imad, Youssef und Muhammad, alle jeweils 15 bis 16 Jahre alt - überlebten die Kämpfe ebenfalls nicht. Sie starben bei einem Bombenangriff. Die sterblichen Überreste wurden auch hier den Familien übergeben. Diesen blieb nichts, als ihre getöteten Kinder zu beerdigen.
Bedrückende Zahlen
Die Rekrutierung von Kindersoldaten ist eine der bedrückendsten Formen von Menschenrechtsverletzungen im jemenitischen Bürgerkrieg. Unter diesen leiden, neben ganzen Familien, auf vielfache Weise natürlich vor allem die Kinder selbst. Die Vereinten Nationen weisen bereits seit Jahren auf das schwere Los der Kindersoldaten unter anderem im Jemen hin. In einem Papier von Ende Juni dokumentieren die UN 211 Fälle der Rekrutierung von Kindern im Zeitraum Januar bis Dezember 2020, die meisten davon bei den Huthis (163). Von diesen KIndersoldaten waren 134 Jungen, doch auch 29 Mädchen fanden sich unter ihnen.
Die Huthis wehren sich gegen die Kritik - allerdings nicht mit Sachargumenten. In einer auf Arabisch verfassten Erklärung erklären sie, der UN-Bericht sei von der amerikanischen Regierung und den reichen Öl-Staaten am Golf diktiert worden.
Rekrutierungen auch auf Regierungsseite
Doch auch jemenitische Regierungstruppen schrecken vor dem Einsatz von Kindersoldaten nicht zurück. Der UN-Dokumentation zufolge fanden sich in ihren Reihen 34 Kindersoldaten. Laut einem gemeinsamen Bericht der Organisationen "SAM for Rights and Liberties" und "Euro-Mediterranean Human Rights Monitor" versuchen der jemenitischen Regierung nahestehende Gruppen Kinder "in großem Umfang" zu rekrutieren, vor allem in den südlichen Gouvernements Taiz, Lahidsch und Abyan. Militärisch trainiert würden die Kinder dann in Saudi-Arabien, so der Vorwurf.
Die Mobilisierung von Kindersoldaten geschieht dabei laut Beobachtern und Informanten vor Ort sehr unterschiedlich. In vielen Fällen lassen sich Erzählungen und Berichte von Betroffenen, Nachbarn oder Angehörigen dabei kaum unabhängig verifizieren. So wird von einem Soldaten berichtet, der angeblich seinen minderjährigen Sohn rekrutieren ließ, um auf diese Weise selbst mehr Geld zur Verfügung zu haben. In anderen Fällen wurden offenbar jüngere Brüder von älteren Geschwistern animiert, sich beim Militär zu melden. Auch wird von einem Fall berichtet, in dem der Sohn eines getöteten Soldaten angeblich faktisch dessen Stelle übernahm.
Offenbar spielen bei der Anwerbung oft auch persönliche Beziehungen der Familien zu den vor Ort verantwortlichen Behörden eine Rolle, nicht selten dürfte auch sozialer Druck mit im Spiel sein. Allerdings handele es sich in solchen Fällern nicht um systematische Rekrutierungen, so lokale Beobachter. Darin unterscheide sich die Praxis der Regierung von der der Huthis.
Ähnlich sieht es auch Tawfiq al-Hamidi, Präsident der Menschenrechtsorganisation "SAM for Rights and Liberties". Die Rekrutierung von Kindersoldaten durch Regierungstruppen und Huthi-Rebellen seien in Form und Ausmaß kaum miteinander vergleichbar, meint er. Auf Seiten der Regierungstruppen nähmen nur wenige Kinder unmittelbar an Kämpfen teil, so al-Hamidi im Gespräch mit der Deutschen Welle.
Erziehung zu Hass und Gewalt
Informationen von Menschenrechtsorganisationen zufolge rekrutieren die Huthis tatsächlich in ungleich größerem Maß. Laut der Studie von "Euro-Mediterranean Human Rights Monitor" und "SAM for Rights and Liberties" haben die Rebellen seit 2014 mehr als 10.000 jemenitische Kinder rekrutiert. In Ausbildungsstätten würden die Kinder zur Gewalt erzogen, der Huthi-Ideologie unterworfen und auf Grundlage eines extremistischen Gedankenguts auf den Kampf vorbereitet.
Nicht minder bedrückende Zahlen nennt ein Sprecher der jemenitischen Kinderrechtsorganisation "Seyaj". Ihm zufolge betreiben die Huthis sogar rund sechstausend Sommercamps. In jedem würden sie mindestens einhundert Kinder ausbilden. Die Minderjährigen erhielten eine taktische Kampfausbildung, so "Seyaj". Viele dieser Kinder gingen nach einer gewissen Zeit dann direkt an die Front.
"Tickende Zeitbombe"
Das Phänomen der Rekrutierung von Kindern für den Krieg sei eine Art "tickende Zeitbombe, sagt der ehemalige Menschenrechtsminister der international anerkannten Regierung, Muhammad Askar, im Gespräch mit der Deutschen Welle. Auch er erhebt schwere Vorwürfe vor allem gegen die Huthi-Rebellen: In deren Camps würden hunderttausende von Kindern einer Gehirnwäsche unterzogen. "Die Köpfe dieser Kinder sind vollgestopft mit einer Kultur des Hasses und der Losung 'Tod für Amerika'. Wie soll man sie in ein paar Jahren wieder in die Gesellschaft integrieren?!"
Trotz aller Unterschiede entsteht jedoch auf beiden Seiten dasselbe Problem: Im Jemen wächst eine Generation von Kindern heran, die Konfliktlösung mit Waffengewalt als gesellschaftlichen Normalfall kennenlernt.
Ahmed Amran, Emad Hassan
© Deutsche Welle 2021
Der Artikel wurde von Kersten Knipp aus dem Arabischen adaptiert.
Der Name Ahmed Amran ist ein Pseudonym und wird hier aus Sicherheitsgründen verwendet. Der echte Name des Autors ist der Redaktion bekannt.