Die salafistische Versuchung
Tausende Demonstranten, darunter viele Studenten, gingen vergangene Woche in Sulaimaniyya, der größten Stadt der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak, auf die Straße. Sie protestierten für die Wiederauflage finanzieller Zuwendungen, die die lokalen Behörden seit 2014 ausgesetzt haben. Der Unmut war groß. Die Sicherheitskräfte setzten Wasserwerfer, Tränengas und schließlich sogar scharfe Munition ein, um die zunehmend wütende Menge zu zerstreuen.
Die Unmutsbekundung war und ist nicht die einzige ihrer Art. Einen dramatischen Hinweis auf die schwierige Lage vieler Kurden lieferte dieser Tage auch die Nachricht, dass 27 Menschen im Ärmelkanal ertrunken sind. Bei den meisten der Verstorbenen handelte es sich britischen Medien zufolge um Kurden aus dem Irak. Auch viele Migranten, die derzeit an der Grenze zwischen Weißrussland und Polen festsitzen, sind irakische Kurden.
Kein "kurdisches Dubai"
Die Nachrichten spiegeln das Ende einer Hoffnung: Es ist noch nicht lange her, da wurde die Autonome Region Kurdistan als "neues Dubai" bezeichnet. Wohlhabend, friedlich und geschäftsfreundlich: das waren die Attribute, die der Region zugeschrieben wurden, insbesondere im Vergleich zum Rest des Landes.
"Doch hinter dieser Propaganda zerfiel die kurdische Gesellschaft", schrieb Kamal Chomani, ein in Deutschland lebender kurdischer Journalist und Student, vor wenigen Tagen im "New Lines Magazine". Die Gesellschaft sei gespalten in zwei sozioökonomische Klassen: In der einen fänden sich die Mitglieder der politischen Elite - in der anderen die überwiegend mittellose Durchschnittsbevölkerung. So scheinen es auch die wütenden Demonstranten in Sulaimaniyya zu empfinden.
Die Situation in der autonomen irakischen Kurdenregion hat sich seit 2014 dramatisch verschlechtert. Damals breitete sich die Terrororganisation "Islamischer Staat“ (IS) im Land aus und sorgte für brutale Gewalt und Unsicherheit. Später wurde der IS zwar militärisch zurückgedrängt, gerade auch mithilfe kurdischer Kämpfer, doch hinzu kamen nun weitere Konflikte mit der Zentralregierung in Bagdad und eine tiefe Finanzkrise. Fast zwei Drittel der kurdischen Haushalte standen (und stehen) auf der Gehaltsliste der Behörden. Schließlich erklärte die Regierung, dass ihr das Geld fehle, um die öffentlichen Angestellten zu bezahlen.
Der fragile Zustand der kurdischen Demokratie offenbarte sich bei mehreren Wahlen. Im Wahlkampf wurde den Wählern klar, dass die beiden mächtigsten Parteien in der Region - die Patriotische Union Kurdistans (PUK) und die Demokratische Partei Kurdistans (KDP), beide traditionell in der Hand mächtiger Familien und Stämme, wenig Interesse daran haben, von ihrer Macht zu lassen. Gleichzeitig verflüchtigte sich der Traum von einem kurdischen Heimatland - eine ehemals alle Kurden verbindende Idee, die andere Konflikte überdeckte.
All dies führte ganz offensichtlich dazu, dass insbesondere die jüngeren Bürger die Hoffnung verloren haben, jemals in den Genuss eines allgemeinen politischen Wandels wie auch persönlicher ökonomischer Sicherheit zu kommen. Etwa ein Viertel der irakisch-kurdischen Bevölkerung, insgesamt über fünf Millionen Menschen, ist zwischen 18 und 34 Jahre alt. Viele Hoffnungen haben sie nicht: Im Jahr 2018, so eine Studie der Mission der Vereinten Nationen im Irak, ging mehr als ein Fünftel der jungen Kurden davon aus, dass sie nie in ihrem Leben einen Job finden würden.
Sorge vor Radikalisierung
Nun steht zu befürchten, dass sich die frustrierten jungen Menschen anderen Strömungen zuwenden könnten - etwa einer extremistischen Auslegung ihrer Religion.
Die Mehrheit der kurdischen Muslime ist sunnitisch. Doch gerade die Kurden gelten in der Region traditionell als eine Volksgruppe, in der streng religiöse Kräfte nur begrenzten Einfluss und gerade auch politisch eher säkulare Kräfte das Sagen haben, so unter anderem auch die PKK und ihre Unterorganisationen.
Dennoch sind bereits seit den 1950er Jahren extrem konservative sunnitische Prediger - sogenannte Salafisten oder auch die ideologisch verwandten Wahhabiten - in der Region aktiv. Sie fordern die Rückkehr zu einem angeblich authentischen Islam, der ihrer Überzeugung nach den Vorgaben von Religionsstifter Mohammed entspricht.
Viele dieser Geistlichen haben in Saudi-Arabien oder anderen Golfstaaten studiert. Nach ihrer Rückkehr in die kurdische Heimatregion gründeten sie mit finanzieller Unterstützung aus den Golfstaaten salafistische Schulen und Moscheen. Zudem sind diese Prediger häufig in den sozialen Medien präsent. Einige betreiben auch ihre eigenen religiösen Satellitenfernsehkanäle.
Salafisten als Spielball der Politik?
Zuletzt sei das Interesse vieler Kurden am militanten dschihadistischen Salafismus zwar zurückgegangen, heißt es in einer Analyse der Zeitschrift "Kurdish Studies“ aus dem Jahr 2019. "Allerdings gibt es eine wachsende Zahl nicht-militanter Formen des Salafismus in Kurdistan", so der Bericht weiter, der in der Feststellung gipfelte: "Der Salafismus ist in verschiedenen Formen auf dem Vormarsch."
Experten zufolge ist diese Entwicklung auf den Umstand zurückzuführen, dass sich die regierenden politischen Parteien, die KDP und die PUK, den kurdischen salafistischen Geistlichen gegenüber sehr tolerant zeigten. Diese betonen ihrerseits den Gehorsam gegenüber der politischen Führung - im Gegensatz zu anderen konservativen, aber nicht-salafistischen islamischen Parteien, die Teil der Opposition im irakisch-kurdischen Parlament sind und die Führung oft herausfordern.
"Die Behörden in der Region unterstützen den Salafismus, um auf diese Weise die islamischen Parteien zu schwächen", so Ibrahim Sadiq Malazada, Dozent für Soziologie an der Soran-Universität in Irakisch-Kurdistan. Damit erscheinen sie als eine Art machtstrategischer Spielball der regierenden Parteien. Doch diese Rechnung gehe nicht auf, sondern sei gefährlich, so Malazada im Gespräch mit der Deutschen Welle. Er gehe davon aus, dass der religiöse Konservatismus die "tolerante und offene kurdische Kultur" bereits "ruiniert" habe. Konservative Geistliche nutzten die Krisen in der Region, um junge Leute für ihre eigenen Zwecke einzuspannen.
"Rückkehr" zum Islam?
Muslih Irwani, Soziologe und Leiter des Public Policy Institute, einer Denkfabrik in Erbil, sieht in dieser Entwicklung eine "neue Welle der Rückkehr zum Islam", die insbesondere durch die junge Generation vorangetrieben werde. Dabei gebe es zwei Formen. Die eine sei eher traditionell und politisch neutral, erklärte Irwani. "Der zweite Ansatz ist hingegen radikaler und wird von denjenigen bevorzugt, die ihr Leben durch die politische Situation in Irakisch-Kurdistan zerstört sehen."
Nicht alle teilen diese Einschätzung. "Junge Kurden sind wütend auf die derzeitige Regierung, und sie sind wütend auf alle, die diese Regierung verteidigen", sagt der in der Region arbeitende Journalist Soran Ahmad im Deutsche Welle-Interview. "Auch die Salafisten verteidigen doch die Regierung! Sie sagen, man müsse um der Stabilität und Sicherheit willen dem Herrscher gehorchen und den Status quo schützen."
Aus diesem Grund hat Ahmad wenig Sorge vor einem Erstarken radikaler religiöser Kräfte - ihr gutes Verhältnis zu den Regierenden mache sie in den Augen vieler junger Leute sogar eher verdächtig. Außerdem, so Ahmad, habe auch das barbarische Verhalten der Terrorgruppe "Islamischer Staat" ganz erheblich dazu beigetragen, dass sich viele Einheimische eher von der Religion abwendeten. Zwar ist die Mehrheit immer noch religiös, wie eine Umfrage des Arab Barometer aus dem 2019 zeigte. Doch gerade bei jungen Leute war die Tendenz rückläufig.
Konfliktbeschleuniger soziale Frustration
"Der Salafismus in Irakisch-Kurdistan ist nicht neu", sagt Kamaran Palani vom Nahost-Forschungsinstitut in Erbil. Er habe in letzter Zeit keine wesentliche Veränderung bemerkt. Dennoch gebe es Gründe, wachsam zu bleiben: "Stellen Sie sich vor, Sie sind ein 22-jähriger Hochschulabsolvent", so Palani. "Sie finden keinen Job, haben nur begrenzte Aussichten und sehen, wie andere Leute ihren Abschluss an europäischen oder privaten Universitäten machen und ein ganz anderes, ein sehr wohlhabendes Leben führen. Natürlich wird man dadurch anfälliger für Mobilisierung", so der Dozent der Salahaddin-Universität.
Die Wahrnehmung von Ungerechtigkeit, Ungleichheit und Hoffnungslosigkeit seien durchaus geeignet, junge Menschen in Richtung Radikalisierung zu treiben, so Palani. Zwar habe sich die Zahl der Jugendlichen, die sich zu salafistischen Moscheen hingezogen fühlen, zuletzt kaum verändert. Doch Palani verweist auf das Jahr 2014, als sich mehr als 530 irakische Kurden dem IS angeschlossen haben sollen. Zudem seien weitere 800 gefasst worden, bevor sie dies tun konnten, beruft sich Palani auf Informationen aus Sicherheitskreisen.
"Damals, 2014, gab es hier noch Raum und Hoffnung für junge Menschen", so Palani. "Wenn nun wieder eine Gruppe wie der IS käme, dann, fürchte ich, würden noch viel mehr junge Menschen versuchen, sich ihr anzuschließen."
Cathrin Schaer
© Deutsche Welle 2022
Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.