Den Opfern ein Gesicht und eine Stimme geben
Herr Wiedenhöfer, warum haben Sie sich dazu entschieden, ein Projekt über Syrien zu machen?
Kai Wiedenhöfer: Ich habe von 1991 bis 1993 in Syrien Arabisch studiert. Seit dieser Zeit habe ich eine gute Kenntnis des Landes und ich mag die Leute dort sehr. Für mich ist die Gesellschaft in Syrien die modernste Zivilgesellschaft die man im Nahen Osten findet – noch stärker als die der Palästinenser, bei denen ich sehr viel Zeit verbracht habe. Deswegen ist es für mich sehr bitter zu sehen, wie das jetzt alles in Stücke geschlagen wird und diese Errungenschaft verloren geht.
Im Vordergrund Ihres Projekts stehen Flüchtlinge aus Syrien, die sie porträtiert haben. Wie kam es zu diesem besonderen Fokus?
Wiedenhöfer: Im Januar 2013 war ich für einen Monat in Aleppo. Das war noch bevor dort der "Islamische Staat" in Erscheinung trat. Doch schon damals war es sehr gefährlich, dort zu arbeiten. In der Zwischenzeit ist es noch viel schlimmer geworden. Man kann in Syrien als westlicher Journalist eigentlich nicht mehr arbeiten. Deswegen habe ich mir überlegt, wie ich den Krieg visualisieren kann, ohne ins Land reisen zu müssen.
Hinzu kommt, dass in Syrien so viele Kameras präsent sind, dass man eine stringente Idee haben muss, die eben nicht die fünfhundertste Visualisierung einer abgeschossenen Panzerfaust ist. Ich habe ein ähnliches Projekt bereits im Gazastreifen durchgeführt und das Konzept jetzt auf den Konflikt in Syrien angewendet. Der Unterschied war, dass die Leute aus Syrien Flüchtlinge sind. Das heißt, ich konnte sie nicht in ihren Häusern fotografieren, der Verlust ihrer Heimat macht sie viel sensibler.
In welcher Hinsicht war es sensibler, mit den Menschen aus Syrien zu arbeiten? Könnten Sie das etwas konkretisieren?
Wiedenhöfer: Die Menschen, die ich fotografiert habe, sind komplett entwurzelt. Sie haben ein ganz normales Leben unter recht guten Bedingungen geführt, hatten Arbeit und ein enges soziales Netzwerk. Jetzt sind sie aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen und unsicher. Oft waren sie Todesgefahren ausgesetzt, viele haben ihre Angehörige verloren, sie sind inhaftiert oder schwer traumatisiert. Manche haben auch Angst vor dem syrischen Geheimdienst, weil sie noch Familienmitglieder in Syrien haben. Deswegen sind sie erst einmal sehr vorsichtig und zurückhaltend. Anderseits haben sie natürlich ein Interesse daran, ihre Verletzungen zu zeigen, da ihnen Unrecht widerfahren ist. Und jeder, dem Unrecht widerfahren ist, will dies auch der Welt mitteilen.
Warum haben Sie sich für diesen sehr direkten Titel "Forty out of One million" entschieden?
Wiedenhöfer: Der Titel ist so gewählt, um die Dimension des Syrienkrieges deutlich zu machen. Die Menge soll klar ausgedrückt werden, gleichzeitig soll aber keine anonyme Masse dargestellt werden, sondern es sollen Einzelschicksale gezeigt werden. Ich muss mit diesem Projekt niemandem einen Gefallen tun, deswegen habe ich mich für diesen Titel entschieden. Im Dezember 2014 teilte die WHO in einem Bericht mit, dass es bereits eine Million Kriegsverletzte und 200.000 Tote in Syrien zu beklagen gibt. Das bedeutet, dass jeder 22. Syrer verletzt ist. Das ist unglaublich! Wenn man dies mal auf die Einwohnerzahl von Deutschland umrechnen würde, sieht man wie gewaltig die Ausmaße sind.
Und selbst wenn dieser Krieg heute beendet würde, müsste die Bevölkerung, müssten die Familien und der Staat mit diesen vielen Verletzten und Behinderten umgehen. Um viele muss man sich ein ganzes Leben kümmern. Wenn jemand beide Arme verloren hat, braucht er selbst beim Toilettengang Hilfe. Das ist eine riesige Belastung für die Volkswirtschaft, selbst wenn irgendwann Frieden herrscht.
Ich erinnere mich noch, wie das als Kind in den 1970er Jahren in Deutschland war. Man sah viele Leute, die lederbehandschuhte Hände und Prothesen trugen oder mit Krücken herumliefen. Das ist heute alles aus der Öffentlichkeit verschwunden, weil die Leute mittlerweile alle verstorben sind. Und deswegen ist der Krieg bei uns einfach nicht mehr präsent. Daher war es mir wichtig, mit dem Projekt eine visuelle Präsenz des Krieges zu schaffen.
Sie porträtieren in Ihrem Projekt Menschen mit gewaltigen körperlichen Verletzungen. Wie ist es möglich, diese Menschen würdevoll zu fotografieren?
Wiedenhöfer: Wichtig ist es, die Verletzungen fotografisch so redundant zu machen oder zurücktreten zu lassen, wie möglich. Und manche Leute habe ich nicht fotografiert, weil sie entstellt waren. Da helfen auch fotografische Hilfsmittel nicht mehr. Das ist einfach nur noch purer Horror.
Dieses Projekt haben Sie anderes als vorherige nicht als Buch bei einem Verlag, sondern als Broschüre in Eigenregie veröffentlicht. Wieso?
Wiedenhöfer: Mir ging es dieses Mal darum, etwas Schnelleres zu entwickeln und nicht das Medium Buch mit seinen langen Produktionszeiten zu wählen. Für dieses Projekt habe ich vom Fotografieren bis zum Layout alles selbst gemacht. Für mich ist es ein "Multi-Purpose-Tool". Ich habe es auch verschiedenen Bundestagsabgeordneten geschickt und will damit noch an die Bundeszentrale für politische Bildung und andere Stiftungen herantreten. Toll wäre es natürlich, wenn man das Projekt in einer fünfstelligen Auflage drucken und umsonst verbreiten könnte, um die Leute zu informieren.
In Ihrem Nachwort kritisieren Sie, dass Redaktionen westlicher Medien aus "ethischen Gründen" oft keine Bilder von Opfern zeigen. Was genau stört Sie am Umgang der Medien mit Kriegsbildern?
Wiedenhöfer: Man muss sich einfach überlegen, was eine angemessene Visualisierung von Krieg sein kann. Krieg ist kein Kricketspiel und kein Abenteuer. Und wir sind sehr stark durch die Bilder der Filmindustrie vorbelastet. Oft werden visuelle Hollywoodplots reproduziert. Aber dies sagt uns im Prinzip nichts über die Wirkung moderner Waffen.
In Bezug auf Syrien sehe ich das Problem auch in der Obsession mit dem "Islamischen Staat". Der ist aber nur ein Teil des Syrienkrieges. Medien lassen sich sehr einfach instrumentalisieren, wenn man ihre Funktionsweise verstanden hat. Jeden Tag sterben in Syrien mehr Menschen als dies beim Germanwings-Flugzeugabsturz geschehen ist, wo die Welt sich dann aber drei Wochen lang nur noch um dieses eine Thema drehte. Das ist natürlich schlimm für die Angehörigen, aber letztlich ist es das Gleiche: Leute sterben jeden Tag, jeden Tag, jeden Tag...
Das Interview führte Felix Koltermann.
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