Die arabische Welt hat keine Antworten
Die überfällige Transformation der arabischen Welt von einem autokratischen System in Ordnungen mit Teilhabe und Rechtsstaatlichkeit ist keine Angelegenheit von Monaten, sondern einer Generation. Verlässlich folgt auf die vereinzelten Fortschritte ein Rückfall, so zuletzt in Tunesien und in Sudan. In Tunesien, wo sich die einzige erfolgreiche Revolution des Jahres 2011 ein Jahrzehnt lang behaupten konnte, hat der Präsident das Kabinett und das Parlament abgesetzt, um allein zu regieren.
Im Sudan bootete nun der Armeechef die Zivilisten aus, die sich durch Proteste des Jahres 2019 eine Teilung der Macht erkämpft hatten. Der Putsch kam nicht unerwartet. Denn in diesem Monat hätte der Armeechef den Vorsitz im Übergangsrat an den zivilen Ministerpräsidenten abtreten müssen. Erstmals seit Jahrzehnten hätte dann ein Zivilist die Regierung angeführt. In anderen Ländern widersetzen sich die Streitkräfte ebenfalls dem Wandel.
In Ägypten hat das Regime des zum Präsidenten gemachten Generals Abdel Fattah Al-Sisi den brutalsten Polizeistaat in der jüngeren Geschichte des Landes geschaffen; in Algerien steigen mehr frustrierte junge Menschen in Boote nach Europa, weil sich die Streitkräfte nach einer hoffnungsvollen, aber kurzen Phase der Öffnung wieder dem Wandel verschließen; und in Syrien ist es Machthaber Assad gelungen, dank der Hilfe Russlands und Irans, aber auch der Brutalität seines Sicherheitsapparats, die Bevölkerung wieder zu unterjochen.
Einst Garanten der Unabhängigkeit
Die Streitkräfte sind in den meisten arabischen Staaten außerhalb der Golfmonarchien die maßgeblichen Herrscher. Jahrzehntelang hatten sie ein hohes Ansehen genossen – als Helden und als Garanten der Unabhängigkeit, ebenso als Institution, die soziale Mobilität und gesellschaftlichen Aufstieg ermöglichte. Heute sind sie jedoch eine in sich geschlossene Kaste, die ihre Pfründe verteidigt und die Politik des Landes diktiert.
Für die Älteren mag die Legitimation aus dem Unabhängigkeitskrieg noch zählen. Die Jüngeren aber wollen Arbeit, und die kann das Wirtschaftsmodell der Streitkräfte, das keinen fairen Wettbewerb vorsieht, nicht im notwendigen Umfang schaffen. Jeder zweite junge Araber ist daher ohne Arbeit. Da die Militärs unverändert glauben, alle Probleme am Reißbrett des Generalstabs lösen zu können, werden sie noch weniger in der Lage sein, die großen Herausforderungen zu bewältigen, die auf die arabische Welt zurollen.
Nirgends ist zu erkennen, dass ein Regime ein Programm hätte, um die Folgen des dramatischen Wachstums der Bevölkerung proaktiv einzudämmen. Nach Projektionen der Vereinten Nationen wird die Bevölkerung der 22 Staaten der arabischen Welt bis zum Jahr 2050 um die doppelte Größe der Bevölkerung Deutschlands wachsen. Derzeit nimmt sie um acht Millionen Menschen im Jahr zu. Für sie müssten Schulen, Wohnungen und Arbeitsplätze geschaffen werden, was nicht ansatzweise geschieht, sodass weitere große Proteste programmiert sind.
Außerdem wird der Klimawandel keine andere Region stärker treffen als die arabische Welt. Die Temperaturen werden dort um das Doppelte des weltweiten Durchschnitts steigen. Es wird noch mehr sehr heiße Tage geben und in der wasserärmsten Region noch weniger Niederschläge, damit eine noch geringere Agrarproduktion, obwohl die Bevölkerung stark wächst. Tigris und Euphrat führen so wenig Wasser wie nie, und wenn der Meerwasserspiegel des Mittelmeeres ansteigt, wird das ägyptische Nildelta überflutet. Dort lebt die Hälfte der Bevölkerung Ägyptens. In Iran hatten sich die jüngsten Unruhen an der Knappheit von Wasser entzündet. Schließlich verändert das bevorstehende Ende des fossilen Zeitalters die arabische Welt massiv.
Näher an Europa
Die Ölstaaten bauen bereits ihre Wohlfahrtsstaaten zurück und diversifizieren, mutmaßlich zu spät, ihre Volkswirtschaften. Sie brauchen die Arbeitsplätze für die eigene Bevölkerung und schicken die Gastarbeiter in ihre Herkunftsländer zurück, wo sie das Heer der Arbeitslosen vergrößern.
Auf alle diese Herausforderungen haben die arabischen Staaten, so wie sie heute regiert werden, keine Antwort. Bedingt ausgenommen sind die Golfmonarchien; sie verfolgen zum Umbau ihrer Volkswirtschaften (über-)ambitionierte "Visionen 2030“. Die Militärrepubliken aber verschanzen sich zum Schutz vor der verzweifelten eigenen Bevölkerung in Wagenburgen.
Mit den Gefahren, die mit den drei Herausforderungen verbunden sind, rückt die arabische Welt näher an Europa. Ein "Weiter so“ mit den Machthabern darf es aus dem ureigensten Interesse Europas nicht geben. Die Vereinigten Staaten ziehen sich aus dem Nahen Osten nicht ganz, aber doch zu einem großen Teil zurück.
Damit bleibt Europa, um die Machthaber mit intelligenten Anreizen von der Notwendigkeit eines Wandels zu überzeugen oder sie mit Sanktionen und auch mit Vorenthalten politischer Höflichkeitsfloskeln für ihr Nichthandeln zu bestrafen. Die Uhr tickt. Allzu viele Rückfälle wie zuletzt in Tunesien und in Sudan kann sich die arabische Welt nicht leisten.
© Frankfurter Allgemeine Zeitung 2022