Politisches Erdbeben in Tunis
Mehr als zehn Jahre nach dem revolutionären Massenaufstand von 2011, der Tunesiens Ex-Diktator Ben Ali nach rund 23 Jahren an der Macht aus dem Amt jagte und einer demokratischen Transition den Weg ebnete, steht das Land heute mit dem Rücken zur Wand. Die durch die Corona-Pandemie massiv verschärfte Wirtschaftskrise, eine explodierende soziale Ungleichheit und die Blockade des parlamentarischen Systems haben das politisch beinahe manövrierunfähige Land in eine Sackgasse geführt. Der schon seit Jahren anhaltende, aber sich zuletzt stark zuspitzende Machtkampf zwischen Parlament, Premierminister und Staatspräsident hat das Fass nun zum Überlaufen gebracht.
In verfassungsrechtlich mehr als strittiger Manier hatte der erst Ende 2019 gewählte Staatspräsident Kaïs Saïed am Sonntag (25.07.) mit Verweis auf Artikel 80 der Verfassung die Macht in Tunesien übernommen und will nun vorübergehend per Dekret regieren. In einer TV-Ansprache verkündete der frühere Verfassungsrechtler die Entlassung von Premierminister Hichem Mechichi, das Einfrieren der Arbeit des Parlaments für 30 Tage und die Aufhebung der Immunität sämtlicher Parlamentsabgeordneter. Bis zur Ernennung eines neuen Regierungschefs will Saïed der Regierung nun selber vorsitzen.
Während der offenbar unter Hausarrest stehende Mechichi in einer versöhnlich und deeskalierend gehaltenen Erklärung seine Entlassung akzeptierte, entließ Saïed noch am Folgetag seiner Machtübernahme Verteidigungsminister Brahim Bartagi und Justizministerin Hasna Ben Slimane. Derweil könnte eine vom Staatschef vorangetriebene Entlassungswelle im Staats- und Sicherheitsapparat bevorstehen. Tunesische Medien berichteten bereits, Saïed plane vor allem im Innenministerium leitende Beamte auszutauschen, die auf Grundlage parteipolitischer Beziehungen ernannt worden sein sollen.
Tumulte in den Straßen
Unmittelbare Auslöser für Saïeds Machtübernahme sind der katastrophale Umgang Mechichis mit der jüngsten und weiterhin nicht überstandenen Covid-19-Welle sowie regierungskritische Proteste, die erst am Sonntag durch Tunesien gefegt waren. Diese richteten sich vor allem gegen die islamistische Ennahda-Partei, aber auch andere politische Kräfte, die sich nach Ansicht unzähliger Menschen im Land seit Jahren weniger um die dringenden sozialen und wirtschaftlichen Probleme der Bevölkerung gekümmert hatten, sondern vor allem mit politischen Ränkespielen beschäftigt waren. Protestler attackierten dabei mehrere Ennahda-Büros und forderten lauthals die Auflösung des Parlaments und die Absetzung Mechichis.
Saïed jedoch setzte weder die Verfassung außer Kraft noch löste er das Parlament auf und betonte am Montag erneut, bei seinem Eingreifen handle es sich keineswegs um einen Putsch. Vor allem die Ennahda-Partei – derzeit die mit Abstand größte Kraft im Parlament und seit 2011 fast durchgängig an der Regierung beteiligt – sieht das jedoch anders. In einer Erklärung bezeichnete sie Saïeds Eingreifen als „verfassungswidrig“ und „Putsch gegen Verfassung und staatliche Institutionen“. Noch am Sonntag hatten Armeeeinheiten Parlament und Regierungssitz in Tunis umstellt und den amtierenden Parlamentspräsidenten und Ennahda-Chef Rached Ghannouchi und mehrere Ennahda-Abgeordnete daran gehindert, das Parlamentsgebäude zu betreten.
Während sich Saïeds Anhängerschaft in zahlreichen Provinzen zu Freudenfeiern versammelte, waren Ennahdas Unterstützer noch am Sonntag in klarer Opposition zu Saïed vor das Parlament in Tunis gezogen. Nach ersten Rangeleien zwischen Demonstranten der sich unversöhnlich gegenüberstehenden Lager beruhigte sich die Lage zwar schnell, doch die Stimmung im Land bleibt angespannt.
Während Ennahda-Anhänger ein Ende der demokratischen Transition oder gar einen blutigen Umsturz prognostizieren, befürchten die Gegner der islamistischen Partei, dass deren Gefolgschaft ihrerseits auf gewaltsame Mittel setzen könnte. Wenig überraschend verfügte Saïeds am Montag (26.07.) einen vorläufigen landesweiten Lockdown und verbot jedwede Menschenansammlung von mehr als drei Personen.
Kurskorrektur oder Rückfall in die Autokratie?
Der als Verfechter staatlicher Souveränität geltende Präsident versucht unterdessen, die Wogen zu glätten und versicherte in mehreren Treffen mit Vertretern der Zivilgesellschaft und einflussreicher nationaler Organisationen, sich an die Verfassung halten zu wollen. Während zahlreiche Parteien aus sämtlichen politischen Lagern Saïeds Machtübernahme fast einhellig verurteilten und als klaren Rechtsbruch bezeichneten, schätzt der einflussreiche Gewerkschaftsdachverband UGTT die vom Staatschef durchgedrückten Maßnahmen als legal ein, forderte aber einen Dialog zur Findung einer politischen Lösung sowie das Festhalten am in der Verfassung vorgesehenen Rechtsrahmen.
Die Angst vor einer Rückkehr zu autokratischen Verhältnissen ist dabei omnipräsent im Land – der Frust über die sich gegenseitig blockierenden Staatsinstitutionen jedoch auch. Völlig offen bleibt dabei, ob es sich tatsächlich nur um eine vorübergehende Machtübernahme des Staatschefs handelt oder ob dieser eine länger andauernde Zentralisierung der exekutiven und legislativen Gewalt im Sinn hat. Ebenfalls nebulös ist, wie Saïed die seit Jahren andauernde verfassungsrechtliche Krise zu lösen gedenkt.
Die in der Verfassung von 2014 nicht eindeutig geregelte Kompetenzverteilung zwischen Exekutive und Legislative sowie zwischen Präsident und Regierung lähmen das Land bereits seit Jahren. Während vor allem das hastig verabschiedete Wahlgesetz für die instabilen Mehrheitsverhältnisse im Parlament verantwortlich gemacht wird, haben es sämtliche Regierungsparteien der letzten Jahre – inklusive Ennahda – konsequent versäumt, das immer noch nicht arbeitsfähige Verfassungsgericht zu besetzen.
Dessen Abwesenheit hat sich der Staatschef nun zu Nutzen gemacht und handstreichartig die Macht übernommen. Die Befürchtung, Tunesien steuere einem blutigen Putsch oder einer nachhaltigen Rückkehr zu autoritären Verhältnissen entgegen, muss Saïed erst noch entkräften. Dagegen spricht jedoch, dass er keineswegs über eine etablierte Machtbasis im Staats- und Sicherheitsapparat verfügt und die Armee bisher keine klaren politischen Ambitionen verfolgt. Tunesiens Zivilgesellschaft hat derweil zehn Jahre nach der Revolution Wurzeln geschlagen – und seither immer wieder bewiesen, dass sie autoritäre Vorstöße der Exekutive zu verhindern vermag.
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