Prüfstein und Chance für Europa
Mit einer aufrichtigen europäischen Perspektive kann die Türkei Europa künftig helfen, Werte wie Demokratie, Menschenrechte, Respekt vor und Dialogbereitschaft mit anderen Kulturen und Religionen zu verteidigen, meint Baha Güngör.
Die Umfrageergebnisse schockieren: In der Türkei nimmt die Vorliebe für einen Beitritt zur Europäischen Union ebenso rapide ab wie in Europa die Befürwortung der Türkei als EU-Mitglied.
Das überrascht nicht, weil weder die EU in ihrer heutigen Form die Türkei aufnehmen will und kann, noch das Land an der geographischen Peripherie Europas realistisch die Voraussetzungen für einen Beitritt so schnell erfüllt.
Andererseits aber wollen weder die Europäer der Türkei die Tür vor der Nase zuschlagen, weil sie sehr wohl wissen, dass gerade dieses Land von enormer Bedeutung für die heutigen und künftigen vitalen sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Interessen Europas an der Schnittstelle von Kulturen und Religionen ist.
Europäische Wertegemeinschaft als Vorbild
Aber auch unter dem Halbmond ist die Vision Europa noch längst nicht abgeschrieben, weil das vom Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk vorgegebene Ziel, nämlich die Erreichung des Niveaus zeitgenössischer Zivilisationen, nichts anderes als das Streben nach Integration in die europäische Wertegemeinschaft erlaubt.
Es gibt viele Ängste vor einem Beitritt der Türkei zur EU, die ebenso nachvollziehbar wie abbaubar sind. Die Tatsache, dass die türkische Bevölkerung überwiegend muslimisch ist, muss keinesfalls die vielfach zitierte "Gefahr für die christlich-jüdischen Wurzeln" Europas nach sich ziehen.
Eine Türkei mit glaubwürdiger europäischer Perspektive kann nämlich dem Vorurteil entgegenwirken, dass Europa Christen Platz bietet und andere Religionen ausschließt.
Kein anderes Land als die Türkei mit einer aufrichtigen europäischen Perspektive bietet sich als Prüfstein und Chance für Europa, wenn aus Visionen Wirklichkeit werden soll. Das Land hat den Beweis der Fähigkeit der islamischen Religion bei zeitgenössischer Auslegung zur Koexistenz mit der Demokratie als bestes Regime der Menschheit erbracht.
Westorientierung nach Zerfall des Osmanischen Reichs
Die Türkei ist ein Staat, der in seinen heute noch bestehenden und international unumstrittenen Grenzen 1923 gegründet worden ist. Damit begann ihre Existenz aus dem Schutthaufen des Osmanischen Imperiums zehn Jahre vor der Machtergreifung Hitlers und 15 Jahre vor der Reichskristallnacht und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.
Die Westorientierung führte dazu, dass das Kalifat mit dem Schutt des Osmanischen Reichs entsorgt, das lateinische Alphabet eingeführt, Türkinnen mit dem aktiven und passiven Wahlrecht ausgestattet und der Laizismus zur strikten Trennung von Staat und Religion verankert wurden.
Noch in seinem Gründungsjahr 1949 trat die Türkei dem Europarat bei, gründete die OECD mit und wurde 1952 NATO-Mitglied.
Die Türkei mit einer aufrichtigen europäischen Perspektive kann somit auch künftig Europa helfen, ihre Werte wie Demokratie, Menschenrechte, Respekt vor und Dialogbereitschaft mit anderen Kulturen und Religionen zu verteidigen und auch zur Expansion zeitgenössischer Errungenschaften beizutragen.
Was die Türkei braucht ist Aufrichtigkeit und das Rückgrat derjenigen Verantwortlichen von heute, deren Vorgänger vor allem seit der Unterzeichnung des Assoziationsabkommens von 1963 bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion mit ihren Satelliten der Türkei zugesichert hatten, dass sie unter Erfüllung von bestimmten Bedingungen in die Wertefamilie Europas aufgenommen wird.
Politische Gemeinsamkeiten
Die Türkei hat weiterhin gemeinsame Feinde mit Europa und gemeinsame Ziele, nämlich die Überbrückung von Gräben zwischen Kulturen und Religionen, zwischen Völkern und politischen Systemen.
Folglich kann die Türkei mit einer glaubwürdigen europäischen Perspektive Erfolge im Kampf gegen den internationalen Terrorismus und dem religiösen Fundamentalismus vermehren.
Die Türkei und ihre Menschen, deren Vorfahren 1492 Spaniens Juden vor der Inquisition gerettet und während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Menschen aus Deutschland unabhängig von ihrem Glauben oder ihrem Status Zuflucht geboten haben, sind ein Bestandteil Europas.
Diese Aussage, die Adenauer, Hallstein, von Weizsäcker, Kohl oder Jenninger gemacht haben, überwiegt alle Argumente gegen eine weitere Anbindung der Türkei an Werte und Ziele Europas.
Wenn Deutschland und Europa heute mehr Gewicht in der Weltpolitik spielen und mehr Verantwortung als "global player" übernehmen wollen, ist die Türkei ein Prüfstein. Die Türkei mit einer ehrlichen europäischen Perspektive erhöht das Gewicht Europas über die Konfliktregionen des Nahen und Mittleren Ostens hinaus.
Wenn die Türkei keine zuverlässige europäische Perspektive mehr hätte und zum Spielball von religiösen und nationalistischen Kräften im Innern oder dem Druck undemokratischer äußerer Kräfte würde, wäre ihre Rolle als zuverlässige Partnerin des Westens bei der Lokalisierung von ausbrechenden Konflikten – wie etwa auf dem Balkan oder im Kaukasus – gefährdet.
Die Türkei – Europas Prüfstein und Chance
Eine Versachlichung der Diskussion um die europäische Perspektive der Türkei würde auch das Gefühl der Einwanderer aus der Türkei vor allem in Deutschland verstärken, von ihrer europäischen und christlichen Umwelt als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft anerkannt zu werden – nicht nur geduldet, toleriert oder akzeptiert!
Dann endlich könnte Deutschland den Kindern und Enkelkindern eine Heimat bieten, nachdem ihre Vorfahren unter extremen Arbeitsbedingungen als "Gastarbeiter" ins Land geholt worden waren.
Die Türkei ist für Europa ein Prüfstein und eine Chance zugleich. Ein kategorischer Ausschluss der Türkei aus dem Integrationsprozess in Europa birgt die Gefahr neuer Mauern in Europa – zwischen Ländern und Völkern, zwischen Christen und Muslimen.
Eine an Europa und ihren Werten orientierte Türkei würde die Identifikation Europas als weltoffen und tolerant erleichtern.
Baha Güngör
© Qantara.de 2007
Baha Güngör ist Leiter der türkischen Redaktion der Deutschen Welle und lebt in Bonn und Istanbul.
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