Sehnsucht nach dem Rechtsstaat
Korruption gehört zum Alltag der Menschen in den meisten arabischen Ländern. Sie können nicht auf eine unabhängige Justiz und korrekte Amtsführung in den Behörden bauen. Dies behindert auch den Demokratisierungsprozess, schreibt Martina Sabra.
Im Pendlerzug zwischen Casablanca und Rabat fragt mich ein gepflegter Mittvierziger höflich, ob er mal in mein Buch hineinschauen dürfe. "Korruption im Alltag" lautet der Titel, herausgegeben von Transparency Maroc, dem örtlichen Ableger von Transparency International.
Der Mann überfliegt das Inhaltsverzeichnis, dann gibt er mir das Buch kopfschüttelnd zurück: "Ich leite eine KFZ-Zulassungsstelle in einer Kreisstadt nicht weit von Rabat. Die Leute in meiner Abteilung verdienen im Schnitt umgerechnet 300 Euro. Um ihre Familien zu ernähren, brauchen sie mindestens das Doppelte."
Der Staat habe kein Geld, um den Beamten angemessene Gehälter zu zahlen, weil er nicht genug Steuern einnehme. "Was Transparency Maroc Korruption nennt, kann man auch anders sehen: als Gebühr oder als eine Art Steuer. Ist das nicht vernünftiger, die Beamten direkt zu bezahlen, als das Geld dem Fiskus zu geben, wo es dann möglicherweise in dunklen Kanälen versickert?"
Die Haltung ist verständlich. Mein Gegenüber weiß, dass er alleine an den Verhältnissen nichts ändern wird. Schmiergelder werden in Marokko ständig fällig. Sie entscheiden, wenn es beispielsweise um die Aufnahme in ein Krankenhaus geht, auch über Leben und Tod.
Darüber wird heute freimütig geredet. Sion Assidon, Mitbegründer von Transparency Maroc, klagt nach acht Jahren öffentlichen Engagements: "Die Korruption ist nicht mehr tabu. Es ist viel schlimmer: sie wird banalisiert."
Die Normalität der Korruption
Da Bestechlichkeit die Regel und nicht die Ausnahme ist, ist es Jugendlichen kaum glaubhaft zu vermitteln, dass sie verwerflich und schädlich ist.
Es ist bekannt, dass Polizeichefs an Drogenhandel und Prostitution mitverdienen und dass Geheimdienstler, Militärs und Zollbeamte sich am Cannabisexport oder den Subventionen für die besetzte Westsahara bereichern.
König Hassan II. war nach Angaben des marokkanischen Dissidenten Moumen Diouri an der französischen Firma beteiligt, die die große Moschee von Casablanca errichtete. Für deren Monumentalbau mussten alle Untertanen – auch die Ärmsten – eine Sondersteuer entrichten.
Als Hassan II. im Juli 1999 nach 37 Jahren Diktatur starb, hatte er angeblich über 40 Milliarden US-Dollar auf ausländischen Banken deponiert. Seinem Staat fehlt bis heute Geld, Beamte standesgemäß zu besolden.
Die Situation in anderen arabischen Ländern
Das läuft in der übrigen arabischen Welt kaum anders. Die Strukturanpassungsprogramme der achtziger und neunziger Jahre mit ihren staatlichen Ausgabenkürzungen und Privatisierungen haben vielerorts die Korruption begünstigt.
Zwar gibt es Gesetze, die derlei untersagen. Aber im Konfliktfall liegt die letzte Entscheidung bei Einzelpersonen, den Angehörigen von Familien oder Clans, die über dem Gesetz stehen – meist de facto und manchmal sogar de jure.
In Marokko steht der König sogar laut Verfassung über der Verfassung. In Jordanien kann der König das Parlament auflösen, wie es ihm gefällt. Tunesiens Präsident Zein El Abdin Ben Ali ließ die Verfassung ändern, um ein drittes Mal Präsident werden zu können.
Für den syrischen Staatschef Bashar Al-Assad setzte das syrische Parlament im Jahr 2000 das verfassungsmäßig festgelegte Mindestalter auf 34 Jahre herab, damit er nach dem Tod seines Vaters auf den Präsidententhron folgen konnte.
Unerfüllte Erwartungen
In den neunziger Jahren hofften viele, dass der Wind der Veränderung aus Osteuropa durch arabische Länder wehen werde. Tatsächlich wurden mancherorts Parteien zugelassen und Wahlen abgehalten. Doch die neuen Institutionen erwiesen sich fast ausnahmslos als pseudodemokratisch.
Hinter den Fassaden verfuhren die Mächtigen in Ägypten, Jordanien, Marokko, Algerien, Libanon und in den arabischen Golfstaaten weiterhin so, als wäre der Staat ihr Privatbesitz.
Die personalisierten Herrschafts- und Klientelstrukturen bedienen sich des Rechts – sie unterliegen ihm nicht. Es gibt keine unabhängige Justiz. Auch sonstige Checks and Balances fehlen.
Freie Medien, wirkungsmächtige Parlamente, staatliche wie zivilgesellschaftliche Kontrollinstanzen sind, wenn überhaupt vorhanden, in arabischen Ländern allenfalls schwach ausgebildet. Der tägliche Hickhack mit Behörden zermürbt die Menschen, die sich hilflos ausgeliefert fühlen.
Keine Aussichten auf Reformen
Wer sich in den arabischen Ländern ernsthaft für den Rechtsstaat und gegen Korruption und Machtmissbrauch einsetzt, plädiert indirekt für den Systemwechsel von der Diktatur zur Demokratie. Die UNDP-Berichte von 2002 und 2003 über die menschliche Entwicklung in der arabischen Welt sprechen vorsichtig von "politischen Reformen".
Doch die Aussichten sind düster. "Die meisten arabischen Regime sind nicht reformierbar", urteilt der syrische Publizist und Menschenrechtsaktivist Michel Kilo, "dazu sind sie zu verkrustet. Sie werden entweder von außen gestürzt oder in sich zusammenbrechen."
Dass es in einigen arabischen Ländern in der nächsten Zeit zu Umstürzen oder zumindest zu heftigen Unruhen kommen könnte, ist gut möglich. Die Kurdenaufstände in Nordsyrien und die sozialen Proteste im Libanon, bei denen im Mai 2004 zahlreiche Menschen starben, könnten Vorzeichen sein. In fast allen arabischen Ländern herrscht innenpolitische Dauerkrise.
Glaube an "westliche" Werte verloren
Demokratische Rhetorik wirkt auf viele Menschen indessen längst unglaubwürdig. Dazu haben auch westliche Regierungen beigetragen. Das Wirtschaftsembargo gegen den Irak bestrafte 12 Jahre lang die Bevölkerung für die Untaten seines Tyrannen.
Die Besetzung des Irak im vergangenen Jahr, die stillschweigende Duldung der Vertreibung der Palästinenser durch Israel und die Skandale von Guantánamo und Abu Ghraib zerrütteten den Glauben an "westliche" Werte weiter.
Es ist fraglich, ob Regimewechsel zu mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit führen würden. Beträchtliche Teile der Opposition in den arabischen Ländern propagieren heute Herrschaftsmodelle, die ähnlich hierarchisch sind wie die vorhandenen, nur noch antiliberaler und antimoderner ausfallen.
Es ist kein gutes Zeichen, dass die neue irakische Regierung – kaum im Amt – ein Notstandsgesetz beschloss.
Marsch durch die Institutionen
Religiöse Parteien mit autoritärer Programmatik erfahren überall Zulauf. Auch sie versprechen, den tief sitzenden Wunsch nach berechenbaren und fairen Lebensverhältnissen zu erfüllen.
Aufgeklärte und säkular orientierte Modernisierer setzen deshalb nicht mehr auf radikale Änderungen, sondern auf den Marsch durch die Institutionen.
Führende Menschenrechtsaktivisten und kritische Intellektuelle, darunter der Hauptautor der Arabischen Berichte über die menschliche Entwicklung des UNDP von 2002 und 2003, der Ägypter Nader Fergany, sprechen nicht mehr von Demokratie als politischem Ziel, sondern von guter Regierungsführung.
Die Sehnsucht nach rechtlich garantierten Freiräumen ist stärker als die nach umfassender politischer Mitbestimmung oder gar die nach Teilnahme an letztlich fragwürdigen Wahlen.
Menschenrechte und Korruptionsbekämpfung
Die beiden wichtigsten Themen sind Menschenrechte und Korruptionsbekämpfung. Transparency International ist im arabischen Raum als wichtiger Akteur bekannt. Neben Marokko gibt es weitere nationale Chapters in Algerien, Ägypten, Jemen, Bahrain, Palästina, Libanon und Jordanien.
Seit den achtziger Jahren sind in der arabischen Welt vielerorts unabhängige Menschenrechts- und Anwaltsvereine, Anti-Folter-Komitees, Gefangenenhilfsorganisationen und Behandlungszentren für Folteropfer entstanden.
In Algerien schlossen sich Angehörige von Verschwundenen zusammen, um den Staat zur Herausgabe von Informationen zu zwingen. In Marokko gründeten ehemalige politische Gefangene 1999 das "Forum für Wahrheit und Gerechtigkeit".
Politische Differenzen, etwa über den Umgang mit islamistischen Gefangenen oder Folteropfern, führen aber immer wieder zu Spaltung und Lähmung – das Forum für Wahrheit und Gerechtigkeit etwa gibt es nicht mehr.
Es scheiterte unter anderem an Uneinigkeit in der Frage, ob Folteropfer und ehemalige politische Gefangene die Entschädigungszahlungen des marokkanischen Staates (Königs) akzeptieren sollten, obwohl diese Zahlungen an die Bedingungen geknüpft waren, dass die Opfer keine weiteren juristischen Schritte einleiten würden. Eine ganze Reihe Betroffener gab sich damit aus pragmatischen Gründen zufrieden.
Eine starke, unabhängige Justiz braucht starke, unabhängige Juristen. In Tunesien schlossen sich die Jeunes Avocats zusammen, um gemeinsam für den Rechtsstaat einzutreten und um sich gemeinsam fortzubilden.
In Kairo bietet das unabhängige Arab Centre for the Independence of the Judiciary and of Legal Profession Fortbildungen und Diskussionsforen für kritische Juristen an. Einen wichtigen Beitrag zum juristischen capacity building leistet auch POGAR, das UNDP-gesponserte Programme on Governance in the Arab Region.
"Nationale Berichterstattung muss demokratisiert werden"
Theoretisch sollten die Medien dazu beitragen, rechtsstaatliche und demokratische Ideale in der arabischen Welt zu verbreiten. Satellitenfernsehen und Internet sind grundsätzlich nicht örtlichen Behörden unterworfen – allerdings wird die Cyberwelt in manchen Staaten streng kontrolliert.
Zudem berichten Programme von Al-Jazira oder Al-Arabiya bislang kaum über Belange einzelner Länder. Konkreter Machtmissbrauch ist nur selten ein Thema.
"Die regionalen arabischen Satellitensender haben durchaus das Potenzial für Demokratisierung", sagt der Medienexperte Gregor Meiering. "Aber sie werden nur dann nachhaltig etwas verändern können, wenn sich auch die nationale Berichterstattung demokratisiert."
Davon ist bisher nichts zu merken. Im Gegenteil wurde die Pressefreiheit seit 2001 in mehreren arabischen Ländern wieder drastisch beschnitten. Die Verurteilung des bekannten algerischen Zeitungsjournalisten Benchicou zu zwei Jahren Haft am 14. Juni 2004 ist nur ein Beispiel von vielen.
Globale Rechtssicherheit ist Vorraussetzung für nationale
Die Sehnsucht nach dem Rechtsstaat impliziert, dass es einen (National-)Staat gibt, der willens ist, das Gemeinwohl zu schützen und das Zusammenleben zu gestalten. Tatsächlich verlieren die Nationalstaaten in Zeiten der Globalisierung aber Gestaltungsmacht.
Zudem werden auch in Europa und Nordamerika rechtsstaatliche Prinzipien im Zug des Anti-Terror-Kampfes ausgehöhlt. Vor diesem Panorama ist es illusorisch, zu hoffen, dass die arabischen Gesellschaften aus eigener Kraft mehr Rechtssicherheit realisieren können. Westliche Geber sollten sich indessen hüten, unglaubwürdige Patentrezepte zu predigen.
Stattdessen sollte man sich zusammensetzen und gemeinsam fragen: Was heißt Demokratie, was heißt Rechtsstaat für Euch, und was für uns? Welchen Staat, wie viel Staat wollen wir, was wollt ihr? Und was können wir tun, um den Palästina-Konflikt gerecht zu lösen? Zwar sind zivilgesellschaftliche Organisationen häufig noch recht schwach, doch gerade sie können von Dialog und Weiterbildung profitieren.
Gute Anknüpfungspunkte sind die arabischen Sozialforen, die sich unter anderem im Arab NGO Network for Development zusammengeschlossen haben und die sich regelmäßig treffen, zuletzt beim Forum Social Maroc. In Zeiten der Globalisierung führt der Weg zum arabischen Rechtsstaat über globale Rechtssicherheit.
Martina Sabra
Die vollständige Fassung des Artikels erschien in der Zeitschrift Entwicklung und Zusammenarbeit, 7/2004
Martina Sabra ist Islamwissenschaftlerin. Sie arbeitet als freie Journalistin und Projektgutachterin (vorwiegend in Nordafrika)
Arab Centre for the Independence of the Judiciary and of Legal Profession (englisch/arabisch)
Arab NGO Network for Development (englisch/arabisch)
Programme on Governance in the Arab Region POGAR (englisch/arabisch