"Der Konfessionalismus ist die Tragödie des Libanon“
Korruption und ein Staat, der „über seine Verhältnisse lebt“, das seien die Ursachen für die derzeitige desolate Lage im Libanon, heißt es. Das aber gibt es in vielen Ländern. Warum ist ausgerechnet der Libanon derart tief gefallen?
Martin Accad: Diese Faktoren sind eng mit unserem politischen System verbunden. Doch die eigentliche Tragödie des Libanon – und somit die Quelle aller Probleme des Landes – ist der Konfessionalismus. Damit meine ich nicht die religiöse Vielfalt im Land mit seinen insgesamt 18 Konfessionen. Derartige Vielfalt behindert möglicherweise die Ausbildung einer gemeinsamen nationalen Identität, sie ist aber nicht die Kernursache für die gegenwärtige Krise.
Der Konfessionalismus hat seinen Ursprung im politischen System, das nach Ende des libanesischen Bürgerkriegs 1990 entstanden ist. Es ist gekennzeichnet durch Korruption, Betrug und Veruntreuung von Geldern, die gerechtfertigt oder ummäntelt werden, weil sie angeblich im kollektiven Interesse sind. Die Korruption hat ihre Wurzeln in den Strukturen der vielen religiösen Gemeinschaften im Land.
Eine weitere zentrale Ursache für die gegenwärtige Krise liegt darin, dass wir es als Nation versäumt haben, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Nach 15 Jahren Bürgerkrieg wurde aus den Anführern der Milizen der einzelnen Konfessionen, die sich damals bekriegten, die neue politische Führung des Libanon. 1991 vereinbarten diese Warlords eine Generalamnestie und vergaben sich gegenseitig ihre Kriegsverbrechen mit dem Ziel, selbst nicht mehr belangt werden zu können.So rutschten wir in eine 30 Jahre lange nationale Amnesie, die sich in einer alles verdrängenden Kultur der Straffreiheit zeigt. Die Bürokratie des Landes, die in den Händen dieser ehemaligen Milizenführer liegt, die nur die Ziele ihrer Konfession verfolgen, hat eine Situation geschaffen, in der Korruption und Misswirtschaft systemisch sind.
Im #Libanon herrsche eine Kultur der Straflosigkeit, die das Land in eine katastrophale Situation getrieben habe, sagt @MonikaBorgmann – @hannahel711 hat mit ihr gesprochen. https://t.co/SegXWQoILX #LokmanSlim @Lokman_Slim_LSF @UMAM_DR @GermanEmbBeirut
— Amnesty Journal (@AmnestyJournal) February 4, 2022
Der libanesische Bügerkrieg und seine Folgen
Darf man sagen, dass dieser politische Konfessionalismus die libanesische Politik seit Anfang an geprägt hat – dass er strukturell zur politischen Wirklichkeit im Land gehört?
Accad: Wenn wir bedenken, dass der Begriff Nation in diesem Teil der Welt kaum hundert Jahre alt und somit relativ jung ist, dann stimme ich Ihnen zu. Der Vorläuferstaat des Libanon entstand unter dem französischen Völkerbundsmandat nach dem Ersten Weltkrieg. Der libanesische Bürgerkrieg hatte auch mit der Suche nach einer richtigen Formel für das Zusammenleben der verschiedenen religiösen Gemeinschaften und deren gleichberechtigter Vertretung zu tun. Vorher war es mit keinem Modell gelungen, eine zufriedenstellende Lösung zu finden. Die maronitischen Christen waren von 1943 bis zum Ausbruch des Bürgerkriegs 1975 die dominierende Kraft im Libanon. Aus der Unzufriedenheit der anderen Gruppen mit diesem Ungleichgewicht entlud sich der Konflikt dann brutal.
Das Abkommen von Taif schuf 1989 die Grundlage für das Ende des Bürgerkriegs und änderte die Machtverhältnisse, wobei die Sunniten in der Person von Ministerpräsident Rafiq al-Hariri die Führung übernahmen. Seine Ära steht für den umstrittenen Wiederaufbau der Innenstadt von Beirut, eine populäre Unterhaltungskultur und allgemeinen Wohlstand.
Das stand stets im Widerspruch zu einer "Kultur des Widerstands“, wie sie die Hisbollah betrieben hat, – eines Widerstands gegen die israelische Besatzung, die Dominanz der USA und des Westens allgemein. Diese beiden Kulturen stehen seither in einem konstanten Spannungsverhältnis zueinander. Das Bombenattentat auf Ministerpräsident Rafiq al-Hariri im Jahr 2005 hat schließlich das Gewicht in Richtung Hisbollah verschoben.
Haben die im Oktober 2019 ausgebrochenen Massenproteste gegen die herrschende Elite eine neue Zeit eingeläutet?
Accad: Der Aufstand vom 17. Oktober steht tatsächlich für den Anbruch einer neuen Zeit. Die Beteiligten sprechen von "Revolution“ (arabisch: thawra) und von einer "Bewegung des Wandels“. Hauptforderung der Demonstranten war der Wunsch nach Überwindung des Konfessionalismus und nach einem Rechtsstaat, in dem alle gleiche Chancen haben. Leider macht es die gegenwärtige Krise den Demonstranten schwer, mit ihrer Botschaft durchzudringen. Gleichzeitig fürchtet die kleptokratische Elite, dass ein neues, unvorhersehbares Element die politische Bühne betritt und ihre Machenschaften stört.
Der Westen interessiert sich mehr für Offshore-Bohrkonzessionen
Frankreich, die Europäische Union, die Vereinigten Staaten und in gewisser Weise auch der Internationale Währungsfonds setzen sich für einen Weg aus der Krise ein. Warum sind ihre Initiativen bisher gescheitert?
Accad: Nehmen wir einmal an, Frankreich und die USA wollten tatsächlich nach einer Lösung für die Krise des Libanon suchen. Dann sind sie offenbar zu dem Schluss gekommen, dass die "Bewegung des Wandels“ kein tragfähiger Partner ist. Möglicherweise erscheint ihnen die Bewegung als zu uneins oder zu dezentral organisiert, um das Land als echte Alternative zu den bestehenden "alten“ politischen Parteien anführen zu können. Von den herrschenden Eliten hat der Westen zwar keine hohe Meinung, verhandelt aber aus pragmatischen Gründen weiter mit ihnen.
Ein zynischer Betrachter würde eher sagen, dass die Überwindung der aktuellen Krise weder für Frankreich noch für die Vereinigten Staaten hohe Priorität genießt. Für den Westen sind andere geopolitische Ziele wichtiger, wie beispielsweise sich die Offshore-Bohrkonzessionen für Öl- und Gasfelder zu sichern.
Bisher hat der Westen nur wenig gegen die politische Korruption im Libanon unternommen, die sich in den letzten Jahrzehnten zu einer allgegenwärtigen Krankheit entwickelt hat. Wie konnte der Staat angesichts fehlender Transparenz und Rechenschaftspflichten so viele Kredite und Finanzhilfen von internationalen Partnern erhalten? Wie kann es sein, dass die Gelder entweder ineffektiv ausgegeben wurden oder sogar unauffindbar sind? Macht sich der Westen da nicht mitschuldig?
Lassen die für den Mai geplanten Wahlen auf Veränderungen hoffen?
Accad: Trotz regelmäßiger Wahlen ist der Libanon keine Demokratie. Der Staat ist vielmehr eine Kleptokratie, die von einigen Gaunern aus der Zeit des Bürgerkriegs beherrscht wird. Sechs oder sieben der maßgeblichen politischen Führungspersonen und ihrer Parteien sind aus dem libanesischen Bürgerkrieg als die wichtigsten Strippenzieher hervorgegangen. Als Gesellschaft haben wir unsere Augen vor diesem Status quo verschlossen und die Generalamnestie für Verbrechen aus dem Bürgerkrieg akzeptiert, ohne daraus irgendeine Lektion zu lernen. Eine zusätzliche Belastung war die 2005 beendete syrische Besatzung.
Mit Ihrem Projekt "Leaders of Change“ bringen Sie führende Köpfe der Protestbewegung und Akteure aus der Zivilgesellschaft zusammen. Was wollen Sie damit erreichen?
Accad: Unser Forschungsprojekt Action Research Associates verfolgt vor allem zwei Ziele: Zum einen wollen wir das Wesen der Bewegung vom 17. Oktober verstehen, insbesondere ihre Motive, was die Bewegung anstrebt und welche Lösungen sie verfolgt. Das ist wichtig, weil die Bewegung bislang stark fragmentiert ist und einige Mitglieder jegliche Vertretung oder die Notwendigkeit einer klaren Struktur ablehnen.
Nach Interviews mit Aktivisten des 17. Oktober und unabhängigen politischen Akteuren, die nicht unmittelbar mit dem derzeitigen Regime verbunden sind, haben wir thematische Gruppen mit unseren Gesprächspartnern gebildet, um die Daten gemeinsam einzuordnen. Daraus gingen fünf Empfehlungen hervor, die bei der Planung des gewünschten politischen Wandels eine wichtige Rolle spielen werden. Diese Empfehlungen sind in einem ersten Bericht nachzulesen, den wir auch auf Englisch herausgegeben haben.
Arbeitsgruppen aus Aktivisten und unabhängigen politischen Akteuren setzen sich weiter mit diesen fünf Empfehlungen auseinander und konkretisieren sie für die Praxis. Daraus sind eine Reihe von Gesprächsthemen und einige Initiativen entstanden, die darauf abzielen, den öffentlichen Diskurs anzustoßen und die Botschaft der "Bewegung des Wandels“ weiterzuverbreiten.
Als Organisatoren verfolgen wir keine politischen Ambitionen mit dem Projekt. Wir sehen unseren Erfolg schon darin, dass wir das Vertrauen der Teilnehmer gewinnen konnten, da wir neutral sind und keine heimliche Agenda verfolgen. Wir wollen der Kitt sein, der diese vielgestaltige Bewegung zusammenhält.
Ohne Aufarbeitung der Geschichte keine Zukunft
Sie sagen, dass viele der aktuellen Probleme im Libanon auf die Weigerung zurückzuführen sind, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Folgerichtig ist das zweite erklärte Ziel Ihrer Initiative, das libanesische Volk bei der Aufarbeitung seiner Geschichte zu unterstützen. Wie gehen Sie dabei vor?
Accad: Unser langfristiges Ziel ist es, die unterschiedlichen Narrative zur libanesischen Geschichte zu betrachten. Das Abkommen von Taif im Jahr 1989 sah vor, dass wir uns als Gesellschaft auf eine einheitliche Geschichtsschreibung verständigen. Seither sind viele Versuche gescheitert: In unseren Schulen endet die Geschichte des Libanon immer noch im Jahr 1943, weil wir uns einfach nicht auf eine einzige Interpretation der Vergangenheit einigen können. Wir halten eine eindimensionale Geschichtsauslegung für falsch. Man sollte sich mit Geschichte befassen, um Empathie, aktives Zuhören und Akzeptanz für andere Perspektiven und Gegebenheiten zu lernen.
Deshalb sollten sich libanesische Kinder mit Geschichte befassen. Wir könnten dann akzeptieren, dass unsere Geschichte aus mehreren Narrativen besteht. Das würde auch dazu beitragen, die gegenwärtigen Probleme des Libanon in ihrem Kern anzugehen.
Der Krieg in Syrien bestimmt zwar nicht mehr die Schlagzeilen, der Konflikt ist aber weiter ungelöst. Warum kehren nur wenige Flüchtlinge trotz der schwierigen Lage im Libanon nach Syrien zurück?
Accad: Syrien ist seit 2011 Austragungsort für regionale Machtkämpfe und Feindseligkeiten geworden. Eingezwängt zwischen Israel, den palästinensischen Gebieten und Syrien wurde der Libanon in diesen Krieg hineingezogen, insbesondere durch die Hisbollah. Diese schiitische Miliz mit ihren engen Beziehungen zum Iran und zum syrischen Regime hat den Konflikt ausgeweitet und sogar seinen Verlauf mitbestimmt. Trotz der gegenwärtig schwierigen Lage im Libanon fühlen sich syrische Geflüchtete hier sicherer als in ihrem Heimatland.
Zudem sind die Volkswirtschaften beider Staaten eng miteinander verflochten. Indem man im Libanon den Kraftstoff subventionierte, förderte man indirekt den Schmuggel nach Syrien, trotz des Schadens, den die libanesische Wirtschaft dadurch erlitt. Während der Bankenkrise im Libanon wurden auch die Konten vieler Syrer eingefroren.
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Werfen wir einen Blick zurück in die Geschichte: Syrien hat die Unabhängigkeit des Libanon oder die Rechtmäßigkeit seiner Grenzen nie anerkannt. Während des Bürgerkriegs von 1975 bis 1990 unterstützte Syrien aktiv verschiedene Kriegsparteien, die es unter seine Kontrolle nahm. Der heutige korrupte Apparat im Libanon wurde während der syrischen Vorherrschaft und Teilbesatzung eingeführt und ausgebaut. Leider ist es dem Libanon nicht gelungen, sich nach dem Rückzug Syriens im Jahr 2005 davon zu befreien. Im Gegenteil, es wurde sogar schlimmer.
Ich möchte aber keinesfalls die prekäre Lage im Libanon auf den Krieg in Syrien oder gar auf die aus Syrien geflüchteten Menschen zurückführen. Bereits vor Ausbruch des Syrienkriegs im Jahr 2011 hatten wir keine gesicherte Stromversorgung, keine solide Infrastruktur, keine stabile Wirtschaft und keine echte Demokratie. Der Krieg in Syrien mag bei der Verschärfung unserer Krise nur eine Nebenrolle gespielt haben, aber schon lange vor Ausbruch der Unruhen in Syrien war damit zu rechnen.
Was würden Sie Lesern weltweit sagen wollen, die die Krise im Libanon besser verstehen möchten?
Accad: Glauben Sie nicht, dass die anstehenden Wahlen der Schlüssel zur Lösung sind. Die "Bewegung des Wandels“ lehnt Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele ab. Sie hoffen stattdessen auf eine allmähliche Unterwanderung des "Kartellsystems“. Wir brauchen mehr Transparenz, Rechenschaftspflichten und eine unabhängige Justiz. Genau das sollten unsere Freunde in Europa und der übrigen Welt einfordern.
Das Interview führte Erik Siegl.
© Qantara.de 2022
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers
Martin Accad hat an der University of Oxford (England) promoviert. Er ist akademischer Leiter des Arab Baptist Theological Seminary (ABTS) in Mansourieh, Libanon, und Gründer sowie Leiter des dortigen Instituts für Nahoststudien. Martin Accad ist zudem Associate Professor für Islamische Studien am ABTS und Affiliate Associate Professor am Fuller Theological Seminary, Pasadena, Kalifornien, USA.