Die Tradition hinterfragen

Die Islamwissenschaftlerin und Religionspädagogin Lamya Kaddor plädiert für eine zeitgemäße Auslegung des Islam und wehrt sich gegen deren Vereinnahmung durch muslimische Fundamentalisten ebenso wie durch westliche Kritiker. Von Ulrich Schwerin

Die Islamwissenschaftlerin und Religionspädagogin Lamya Kaddor plädiert für eine zeitgemäße Auslegung des Islam und wehrt sich gegen deren Vereinnahmung durch muslimische Fundamentalisten ebenso wie durch westliche Kritiker. Ulrich Schwerin hat ihr neues Buch gelesen.

Lamya Kaddor unterrichtet Islamkunde in einer Schule; Foto: dpa
Um eine bewusste und kritische Auseinandersetzung mit ihrer Religion bemüht: Lamya Kaddor, Islamwissenschaftlerin und frühere Islamkunde-Lehrerin am Centrum für Religiöse Studien (CRS) der Universität Münster.

​​Wenn die Welt sich verändert, der Islam aber gleich bleibt, entfernen sich Religion und Realität immer mehr voneinander. Damit der Islam für die Gegenwart seine Bedeutung bewahrt, muss man daher zu einer neuen Auslegung seiner Grundsätze kommen.

Dies ist der Ausgangspunkt der Überlegungen der Religionspädagogin und Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor, die sie in ihrem Buch "Muslimisch – Weiblich – Deutsch!" mit dem programmatischen Untertitel "Mein Weg zu einem zeitgemäßen Islam" ausführt.

In einer Mischung aus persönlicher Erinnerung, theologischer Reflexion und politischem Plädoyer formuliert sie ihre Vorstellung eines der deutschen Gegenwart angemessenen Islam. Sie geht den Gründen nach, warum die Mehrheit der deutschen Muslime bisher nicht zu einem solchen modernen und aufgeklärten Verständnis ihrer Religion gelangt ist, und zählt die Hindernisse auf, die ihrer Ansicht nach der Verwirklichung dieser Vorstellung im Wege stehen.

Kritik am Verharren in der Tradition

Geboren 1978 im westfälischen Ahlen, gehört Kaddor zu jener Generation Muslime, welche die Kultur des Landes ihrer Eltern, dessen Traditionen und damit auch dessen Vorstellung der Religion nur noch aus Erzählungen, nicht aber mehr aus eigener Anschauung kennen. Während andere trotzdem an den überlieferten Vorstellungen festhalten, selbst wenn sie der deutschen Gegenwart sichtlich nicht mehr angepasst sind, hat Kaddor schon als Kind die Tradition in Frage gestellt.

Später hat sie sich um eine bewusste und kritische Auseinandersetzung mit ihrer Religion bemüht – zuletzt im Studium der Islamwissenschaft. Nachdem sie über Jahre als Lehrerin für Islamkunde an einer Grund- und einer Hauptschule gearbeitet und sich im Bereich der Religionspädagogik engagiert hatte, wirkte sie an der Universität Münster am Aufbau von zwei Lehrstühlen zur Ausbildung islamischer Theologen und Religionslehrer mit.

Buchcover Saphir; &copy Kösel-Verlag
Lamya Kaddor war Mitherausgeberin von "Saphir", dem ersten deutschen Schulbuch zum Islam, das sich an Schüler der Klassen 5 und 6 richtet.

​​Bundesweit bekannt wurde sie aber erst 2008 als Mitherausgeberin von "Saphir", dem ersten deutschen Schulbuch zum Islam, sowie eines ebenso hoch gelobten wie bei Vertretern der islamischen Verbände umstrittenen Korans für Kinder. Als gläubige aber moderne Muslimin kämpft Kaddor in Deutschland zugleich gegen die konservativen Vertreter des Islam, die an den überlieferten Vorstellungen festhalten und jede abweichende Interpretation ablehnen, als auch gegen einen zunehmend islamkritischen Diskurs.

In der deutschen Debatte zum Islam fehlt es nicht an Kritikern und vor allem Kritikerinnen, die ausgehend von den eigenen negativen Erfahrungen in oft sehr persönlichen Büchern ein Bild des Islam zeichnen, das von Ehrenmorden, Zwangsehen und Genitalverstümmlung geprägt ist, womit sie bereitwillig die bestehenden Vorurteile bedienen. Und wenn sich am Ende die Autorin von den Fesseln des Islam befreit und Zuflucht im Westen findet, kann sich ein jeder deutscher Leser ein wenig als Retter fühlen.

Für eine differenziertere Interpretation des Islam

Ebenso wie die Islamisten vertreten diese Islamkritiker die Vorstellung, dass es allein einen wahren und ewig gültigen Islam gibt. Dieses einseitige Bild versucht Kaddor zu dekonstruieren und ihm im Bewusstsein der kulturellen Vielfalt des Islam und seiner historischen Wandelbarkeit eine differenziertere Interpretation entgegen zu stellen. Auch wenn sie selbst dabei nicht immer ganz frei ist von der Versuchung, ihre eigene Auslegung der Schrift als die (einzig) Richtige darzustellen, kommt sie doch einer zeitgemäßen Deutung sehr nahe.

​​Entsprechend der historisch-kritischen Analyse argumentiert sie, dass man viele der scheinbaren Widersprüche zwischen Religion und Moderne auflösen könne, indem man die entsprechenden Gebote des Korans in ihren historischen und inhaltlichen Kontext setzt und damit ihren eigentlichen Sinn aufdeckt.

Sie selbst trägt kein Kopftuch, weil aus ihrer Sicht dieses zur Zeit Mohammads dem Schutz der Frauen diente. Dieser Schutz aber sei heute nicht mehr nötig beziehungsweise könne vom Kopftuch allein nicht mehr erfüllt werden.

Sichtlich bemüht um eine lesbare und lebensnahe Darstellung streut Kaddor kleine Geschichten aus dem Alltag ihrer syrisch-stämmigen Familie und ihrem Leben als Lehrerin für Islamkunde ein. Hier wird beim Petersilieschneiden schon mal über das Wesen Gottes diskutiert, beim Schlürfen süßen Mokkas gegen den Aberglauben gewettert. Und ausführlich kommen ihre Schüler und deren Eltern zu Wort, was einen guten Einblick in das Denken junger deutscher Muslime gibt.

Viele ihrer Schüler kennen den Islam vor allem durch seine Verbote, wobei gerade im Bezug auf die Rolle der Geschlechter vieles weniger von Religion als von Tradition geprägt ist. Als Kaddor ihre Schüler etwa darauf hinweist, dass das voreheliche Verbot des Geschlechtsverkehrs ebenso für Männer wie für Frauen gilt, sehen die Jungen der Klasse dies durchaus ein, fordern dennoch aber eine Ausnahme für sich.

Erwartungen an den Islamkundeunterricht

Ermutigend ist, dass es Kaddor teilweise mit ihrem Unterricht gelang, die Verlogenheit solcher Vorstellungen aufzudecken und in Frage zu stellen. Man kann ihr nur zustimmen, dass dem Islamkundeunterricht eine Schlüsselrolle zukommt, um zu einem bewussten und kritischen Verständnis der Religion zu gelangen. Allerdings warnt sie auch zu Recht davor, den Unterricht mit Erwartungen zu überfrachten. Er allein könne Kinder nicht zu loyalen Staatsbürgern erziehen.

Vieles was Kaddor im letzten Kapitel ihres Buches von der deutschen Gesellschaft als auch von ihren muslimischen Mitgliedern fordert, ist weder überraschend noch ganz neu. Dennoch hat sie Recht, wenn sie darauf hinweist, dass die pauschale Ablehnung des Islam ebenso wenig eine Lösung biete wie das Beharren der Muslime auf ihren Traditionen, da der Islam nun einmal in Deutschland bleiben werde und eine gewisse Anpassung unausweichlich sei.

In der aktuellen aufgeregten Debatte scheint es manchmal tatsächlich notwendig, solche Selbstverständlichkeiten noch einmal zu wiederholen.

Ulrich Schwerin

© Qantara.de 2010

Lamya Kaddor: "Muslimisch – Weiblich - Deutsch! Mein Weg zu einem zeitgemäßen Islam, München", C.H. Beck Verlag

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