"Wir sollten Probleme ansprechen und Fortschritte anerkennen"

Die Abgeordnete der Grünen, Lamya Kaddor, hat mit einer Gruppe Parlamentarier Katar besucht. Im Interview mit Claudia Mende plädiert sie für ein differenziertes Bild und mahnt, auch Fortschritte bei den Menschenrechten anzuerkennen.

Von Claudia Mende

Frau Kaddor, Sie haben als Mitglied der "Parlamentariergruppe der Arabischsprachigen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens“ vor einer Woche Katar und Saudi-Arabien besucht. In Katar wurden die rechtlichen Bedingungen für Arbeitsmigranten verbessert. Hat es auch in der Praxis Verbesserungen gegeben? 

Lamya Kaddor: Das Emirat Katar ist eine autoritäre Monarchie und die Einhaltung von Standards im Arbeitsschutz oder bei den Menschenrechten muss weiter angemahnt werden. Allerdings ist es anzuerkennen, dass die aufgrund des internationalen Drucks bisher durchgeführten Reformen in Katar bereits zu Verbesserungen der Situation – vor allem von Arbeitsmigranten auf den WM-Baustellen - geführt haben.

Fortschritte wie zum Beispiel die Kooperation mit der Internationalen Arbeitsorganisation ILO, Reformen und das Aufweichen des sogenannten "Kafala Systems“ in Katar als erstem Land in der Region sind wichtige Schritte für die Menschen, die im Emirat leben und arbeiten. Damit unternimmt Katar beim Arbeitsschutz und den Arbeitsrechten zumindest erste wichtige Schritte. Die Menschenrechtssituation vor Ort ist schrittweise besser geworden, aber das reicht bei weitem nicht. 

Probleme bei der Umsetzung von Reformen

Denn gleichzeitig bestehen weiterhin große Probleme bei der Umsetzung dieser Reformen. Etwa 90.000 weibliche Hausangestellte profitieren kaum von den bisherigen Reformen. Ich bin überzeugt, dass der Golfstaat nun in der Verantwortung steht, die beschlossenen Reformen auch gegen Widerstände bei Arbeitgebern und in Teilen der katarischen Gesellschaft durchzusetzen.



Zentral ist, dass diese Fortschritte bei den Gesetzen nach der WM in Katar nicht wieder verschwinden. Um eine nachhaltige Verbesserung im Sinne der Menschenrechte und der politischen Teilhabe zu erreichen, muss der begonnene Reformprozess auch nach dem Ende der Fußball-WM, wenn die Weltöffentlichkeit nicht mehr hinblickt, weitergehen.

Ein Fußballfan mit LGBTQ-Fahnen; Foto: Frank Hoerman/Sven Simon/IMAGO
Schlaglicht auf LGBTQ-Rechte: “Wir fordern die Menschenrechte der LGBTQ-Community in Katar weiter ein. Es geht allerdings nicht nur um die Fans während der WM, sondern vornehmlich um diejenigen Menschen, die in Katar leben und arbeiten – auch noch lange nach der WM,“ sagt Grünen-Abgeordnete Lamya Kaddor. "In Katar werden LGBTQ-Rechte verletzt bzw. LGBTQ sogar unter Strafe gestellt. Dass wir das anprangern, sollte eigentlich keine Überraschung für Katar sein. Es verwundert mich daher schon, dass die Katarer so dünnhäutig auf Kritik reagieren."



Alles fokussiert sich gerade auf die WM und diese muss aus Sicht der Katarer reibungslos und friedlich laufen. Erst danach wird sich zeigen, ob man beim jetztigen Stand bleibt, weitere Reformen anstrebt oder wieder hinter das Erreichte zurückfällt. 

Welche Eindrücke haben Sie konkret bei Ihrer Delegationsreise gewonnen? 

Kaddor: Die katarische Gesellschaft freut sich auf diese WM. Die Katarer sind stolz auf das bisher Erreichte und sie sehen die WM als Chance, sich international als gute Gastgeber zu präsentieren. Fähnchen an Autos oder Passanten mit Trikots habe ich allerdings nicht gesehen. An ganz vielen Hochhausfassaden waren Bilder von Spielern aus verschiedenen Nationen zu sehen. Ganze Straßenzüge wurden bereits im Sinne der WM geschmückt. Gleichzeitig sah man auch noch riesige Baustellen. Das Land will sein Image als Unterstützer der Muslimbrüder ablegen und stattdessen zum Mekka der Sportgroßereignisse werden. Das gelingt ihm zum Teil.  

"Nicht mit erhobenem Zeigefinger"

Haben Sie auch mit Nichtregierungsorganisationen in Katar gesprochen? 

Kaddor: Ich konnte mit jungen Wissenschaftlern und mit Mitarbeiterinnen des ILO-Kontaktbüros sprechen, das sich für bessere Arbeitsbedingungen von Arbeitsmigranten stark macht. Im Rahmen der politischen Delegationsreise auch direkt mit Vertretern der Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten zu sprechen, war leider nicht möglich.

Klar ist: Geschehenes Unrecht auf Baustellen muss aufgeklärt und die Opfer dürfen nicht übergangen werden. Deshalb unterstützen wir als Grüne Bundestagsfraktion die Forderung von Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften und Fangruppen, einen unabhängigen und angemessen ausgestatteten Entschädigungsfonds für Arbeitsmigranten einzurichten. Wir sehen hier vor allem die FIFA aber auch die Bauunternehmen und die katarische Regierung in der Verantwortung, finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen. 

Ist der Eindruck vor Ort ein anderer als in der medialen deutschen Debatte? 

Kaddor: Ich finde es richtig und wichtig, dass sich deutsche Medien im Kontext der Fußball-WM der Männer kritisch mit der Menschenrechtslage in Katar auseinandersetzten. Allerdings sollten wir dabei nicht mit dem erhobenen Zeigefinger Probleme ansprechen, sondern das Land differenzierter betrachten.

Dazu gehört, nicht nur Verbesserungen anzumahnen, sondern auch Fortschritte anzuerkennen und die regionale Perspektive mit in den Blick zu nehmen. Katar ist ein kleines, sehr verwundbares Land, das zwischen drei relevanten Regionalmächten liegt, nämlich Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten auf der einen und dem Iran auf der anderen Seite des Golfs. In diesen regionalpolitischen Kontext muss man auch Katars Bemühungen um Sportgroßereignisse wie die WM einordnen.

Es geht den Katarern dabei um Sichtbarkeit, denn diese soll zu ihrem Schutz vor zukünftigen Auseinandersetzungen mit den Nachbarn beitragen. Die Erfahrung aus der Katar-Blockade durch die beiden großen Nachbarn sitzt den Katarern noch in den Knochen. In Zukunft wollen sie für solche Konflikte besser gerüstet sein, indem sie sich strategisch in den Bereichen Diplomatie, Sport, Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft zu einem unentbehrlichen Partner für den Westen machen. 

"Es gibt Unkenntnis und Vorurteile gegenüber der Region"

Der katarische Außenminister Mohammed bin Abdulrahman Al Thani wirft im Interview mit der FAZ Deutschland Doppelstandards gegenüber seinem Land vor. Ist diese Kritik berechtigt? Werden an Katar andere Maßstäbe angelegt als an frühere WM-Ausrichter? 

Kaddor: Wir sprechen nicht erst seit ein paar Wochen über Katar und die Menschenrechtsverletzungen dort. Unsere Gesellschaft wird im Hinblick auf bilaterale Beziehungen insgesamt solchen Themen gegenüber sensibler. Das zeigt auch der direkte Vergleich zur WM in Russland im Jahr 2018. Russland war damals am brutalen Krieg in Syrien beteiligt, hatte bereits die Krim annektiert und zuvor Krieg in Georgien geführt. Auch politische Gefangene gab es bereits 2018 in Putins Russland einige.

Scheich Tamim bin Hamad Al Thani; Foto: Bernd Elmenthaler/Imago
Doppelstandards gegenüber Katar? In einer Fernsehansprache beklagte Katars Scheich Tamim bin Hamad Al-Thani, dass noch kein Endrunden-Ausrichter der WM derart heftig angegangen worden sei. Ähnlich hatte sich der katarische Außenminister Mohammed bin Abdulrahman Al Thani im Interview mit der FAZ geäußert. "Insgesamt ist zu beobachten, dass hierzulande das Bewusstsein für die Menschenrechtslage im Zusammenhang mit Sportgroßereignissen steigt und das ist doch eine positive Entwicklung,“ sagt die Grünen-Abgeordnete Lamya Kaddor. "Gleichzeitig gibt es aber auch eine gewisse Unkenntnis und Vorurteile gegenüber der Region. Da sollten wir zumindest aufpassen, nicht Doppelstandards in unserer Kritik anzuwenden.“



Damals wurde die Menschenrechtslage in Russland allerdings in der medialen und politischen Diskussion um die WM weniger hoch gehangen. Insgesamt ist zu beobachten, dass hierzulande das Bewusstsein für die Menschenrechtslage im Zusammenhang mit Sportgroßereignissen steigt und das ist doch eine positive Entwicklung. Gleichzeitig gibt es aber auch eine gewisse Unkenntnis und Vorurteile gegenüber der Region. Da sollten wir zumindest aufpassen, nicht Doppelstandards in unserer Kritik anzuwenden. 

Wie kann die deutsche Politik mit der Frage der LGBTQ-Rechte umgehen? 

Kaddor: Die Fußballweltmeisterschaft ist der Zeitpunkt, um möglichst viel Aufmerksamkeit für die Menschenrechtslage vor Ort und damit Verbesserungen im Alltag für die Menschen anzuregen. Wir fordern die Menschenrechte der LGBTQ-Community in Katar weiter ein. Es geht allerdings nicht nur um die Fans während der WM, sondern vornehmlich um diejenigen Menschen, die in Katar leben und arbeiten – auch noch lange nach der WM.

In Katar werden LGBTQ-Rechte verletzt bzw. LGBTQ sogar unter Strafe gestellt. Dass wir das anprangern, sollte eigentlich keine Überraschung für Katar sein. Es verwundert mich daher schon, dass die Katarer so dünnhäutig auf Kritik reagieren. 

"Wir müssen Menschenrechte für LGBTQ einfordern"

Welche politische Reaktion halten Sie für sinnvoll angesichts einer Äußerung wie dem Statement des katarischen WM-Botschafters über Homosexualität ("geistiger Schaden")? 

Kaddor: Dass die unsäglichen, homophoben Äußerungen des katarischen WM-Botschafters Fans, die nach Katar reisen, verunsichern, verstehe ich gut. Diesen abscheulichen Äußerungen gilt es entschieden entgegenzutreten. Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat in Katar vom Premier- und Innenminister eine Garantie dafür erhalten, dass die Sicherheit aller deutschen Fans während der Fußballweltmeisterschaft gewährleistet ist. Wie die Ministerin gehe auch ich davon aus, dass die Sicherheitsgarantie weiterhin gilt.

Wenn jetzt allerdings nur während der Fußballweltmeisterschaft queere Menschen aus anderen Ländern ohne Bedenken nach Katar reisen können, dürfen wir uns damit nicht zufrieden geben. Wir müssen weiterhin die Änderung diskriminierender Gesetze und die Anerkennung der Menschenrechte von LGBTQ in Katar einfordern. Katar wird sich daran messen lassen müssen, ob jeder Mensch – unabhängig von seiner sexueller Orientierung und Identität, Herkunft, Religion oder Weltanschauung, dort sicher ist.



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"Wir dürfen den Dialog nicht abbrechen"

Macht sich die deutsche Politik nicht unglaubwürdig: Es gibt eine teils scharfe Kritik an Katar, (einem Land ohne dauerhafte politische Gefangene) während die deutsche Politik nichts dagegen tut, dass während COP27 in Ägypten der Dissident Alaa Abdel Fattah im Gefängnis sterben könnte? 

Kaddor: Es gilt in der ganzen Region, auch in den anderen Golfstaaten, in denen es deutlich schlechter um die Menschenrechte bestellt ist als in Katar, auf Verbesserungen zu drängen. Katar kann mit seinen Reformen im Arbeitsschutz eine Vorreiterrolle am Golf einnehmen. Auch wenn die Golfmonarchien keine einfachen Partner sind, können wir es uns geopolitisch nicht erlauben, den Dialog mit der Region abzubrechen.

Wir haben in unseren Gesprächen vor Ort nicht nur kritische Worte zu den Äußerungen von Frau Faeser gehört (Faeser hatte die WM-Vergabe an Katar als "total schwiereig" bezeichnet, Anm. der Red.), wir selbst haben ebenfalls klare Worte gefunden, wenn es um schwierige Themen wie Menschen- und Frauenrechte ging. Gleiches galt auch für unsere Reise nach Saudi-Arabien.  

Was Ägypten angeht: Es ist ja nicht so, als ob sich die Bundesregierung nicht für Alaa Abdel Fattah einsetzt. Kanzler Scholz hat sich bei seinem Treffen mit Ägyptens Präsident Al-Sisi am Rande der COP27 persönlich für die Freilassung von Alaa Abdel Fattah eingesetzt.



Ebenso war Jennifer Morgan, Staatssekretärin im Auswärtigen Amt, während der COP auf einer Paneldiskussion von Human Rights Watch und Amnesty International zu Gast, an der auch Abdel Fattahs Schwester teilnahm. Das sind klare und auch öffentliche Signale der Unterstützung für Abdel Fattah und die tausenden anderen, politischen Gefangenen in Ägypten. 

Werden Sie sich die WM-Spiele im TV anschauen?  

Kaddor: Ja, als Sportbegeisterte werde ich mir die Spiele wahrscheinlich anschauen. 

Die Fragen stellte Claudia Mende 

© Qantara.de 2022

 

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