Nichts wie weg aus Beirut
Cindy Chemaly Cochrane und ihr Ehemann Paddy Cochrane wollen ihre Wohnung in Beirut nicht wieder aufbauen. Sie wollen sich auch kein neues Auto kaufen oder ihr zerstörtes Restaurant wiederherrichten. Sie wollen weg aus der Stadt, in der seit der heftigen Explosion vom 4. August nichts mehr so ist wie es einmal war, weg aus der Stadt in der mutmaßlich rund 2.500 Tonnen Ammoniumnitrat 300.000 Menschen ihre Häuser und vielen mehr ihre Träume genommen haben. Seither kommt das Land nicht zur Ruhe, fast wöchentlich gibt es weitere Explosionen oder Brände.
"Wir werden Beirut für immer verlassen, und ich werde nichts mehr in dieses Land investieren", sagt sie und klingt dabei sehr entschlossen. Sie wollen nach Irland auswandern, denn Paddy Cochrane hat neben libanesischen auch italienisch-irische Wurzeln - und somit eine doppelte Staatsbürgerschaft. Seine Frau Cindy ist Libanesin.
Mehr Menschen wollen den Libanon verlassen
"Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht, und ich habe hier so viel erlebt: sei es der Bürgerkrieg, die vielen Ermordungen und auch die Wirtschaftskrise. So oft haben wir in Unsicherheit und Angst gelebt", sagt die 40-Jährige. Aber immer habe es etwas gegeben, dass sie dazu bewogen habe, in der Stadt zu bleiben, an der eigentlich ihr Herz hängt.
Seit mehr als einem Jahrzehnt waren sie und ihr 44 Jahre alter Mann in der Gastronomie selbstständig. "Das Restaurant in Gemmayzeh liegt in Schutt und Asche. Und ich habe das Gefühl, dass hier noch etwas Schlimmes passieren wird."
Der Libanon hat im Laufe der vergangenen Jahrzehnte mehrere Auswanderungsphasen aufgrund von Unsicherheit, Krieg oder Krisen erlebt - wie zum Beispiel während des Bürgerkriegs (1975-1990), in den Jahren danach oder auch in einer Zeit politischer Unruhen zwischen 2005 und 2008. Unterschiedlichen Schätzungen zufolge leben heute zwischen zehn und 14 Millionen Libanesen außerhalb des Landes, während nur etwa fünf Millionen Libanesen in dem kleinen Mittelmeerstaat leben.
Mit Beirut abgeschlossen
Durch die Wirtschaftskrise und die Explosion hegen wieder vermehrt Libanesen den Wunsch, das Land zu verlassen. Die, die mittellos sind und keine andere Möglichkeit haben, nehmen derzeit sogar die gefährliche Mittelmeerroute über Zypern in Kauf.
Auch Familie Cochrane will weg. Sie sitzen auf gepackten Koffern. Vorher müssen noch ein paar Wände erneuert werden, in dem was von der Wohnung übriggeblieben ist, damit nichts einstürzt; ein paar Fenster und Türen wollen sie auch einbauen, und dann wollen sie nach Irland.
"Wir haben dem Land so viele Chancen gegeben. Und jetzt geht es auch nicht mehr nur um meinen Mann und mich, sondern auch um unsere zweieinhalb Jahre alte Tochter Zoe. Sie soll in einem sicheren Umfeld aufwachsen", sagt Chemaly Cochrane.
Schwer verletzte Tochter
Nicht in ihren schlimmsten Träumen hätte sie gedacht, dass ihre Tochter Zoe in der eigenen Wohnung in Gefahr sein könnte. Seit Monaten hatten sie die Wohnung aufgrund der Corona-Pandemie kaum verlassen, da ihre Tochter Risikopatientin ist. Dann kam der Tag der Explosion, der Tag, an Zoe seit langem ihre erste Spielverabredung hatte.
Ihre Freunde waren gerade abgeholt worden. Sie war mit Papa Paddy in der oberen Etage der Maisonette-Wohnung in Gemmayzeh. Mutter Cindy telefonierte unten, als ihr die Balkontür ins Gesicht flog. Als sie zu sich kam, stand sie auf und suchte Mann und Tochter.
"Ich ging nach oben und rief nach ihnen, keine Antwort. Das waren die schlimmsten vier Minuten meines Lebens, bis ich sie zusammengekauert in einem der Zimmer fand." Tochter Zoe hatte starke Kopfverletzungen, ihr Mann eine große Wunde am Arm. Sie selbst hatte überall Schnittwunden. Wie durch ein Wunder schafften sie es inmitten des Chaos 1,5 Stunden später in ein Krankenhaus.
"Wir sollten nicht dankbar sein, dass wir am Leben sind"
"Die Anblicke dort werde ich nie vergessen. Menschen, denen Gliedmaße fehlten, alle waren blutüberströmt. Ich habe meiner Tochter gesagt, wir seien auf einer Kostümfeier, wo sich alle rot anmalen." Sie wollte sie schützen, verhindern, dass sie sich fürchtet.
Ihren Familienangehörigen schickte Chemaly Cochrane ein Foto – "eins auf dem ich mich zwinge zu lachen, damit sich keiner Sorgen macht". Sie wollte besonders ihre Mutter beruhigen. Einige Stunden später wurde Zoe behandelt, mittlerweile geht es ihr körperlich gut. Ebenso den Eltern.
"Wir sollten nicht dankbar sein müssen, dass wir noch am Leben sind, denn wir hätten gar nicht erst in dieser Situation sein dürfen", sagt sie. Fast 200 Menschen sind aufgrund der Explosion ums Leben gekommen, darunter auch Paddy Cochranes Großmutter, Lady Cochrane Sursock, Besitzerin des ebenfalls zerstörten historischen Sursock Palace in Beirut. 6.000 Menschen wurden verletzt. "Diese Menschen hätten nicht sterben müssen", sagt sie.
Das was passiert ist, sei vermeidbar gewesen. "Die Menschen sagen hier immer, 'Gott hat es gut mit uns Überlebenden gemeint' – aber ich will nicht mehr in Angst leben."
Der Libanon liegt am Boden
Nicht nur finanziell und wirtschaftlich, sondern auch politisch scheint der Libanon am Ende. Eine neue, handlungsfähige Regierung aus Technokraten zu bilden, wäre vermutlich die letzte Chance vor dem Bankrott gewesen. Doch die Mächtigen konnten sich nicht einigen; der designierte Ministerpräsident Mustapha Adib trat daraufhin zurück. Im Netz schreiben einige Libanesen, dass die politische Klasse lieber einen Bürgerkrieg riskiere als ihre Posten abzugeben.
"Wir hatten Hoffnung, doch keiner verlässt sich mehr auf diese Hoffnung", sagt Christine Hauser. Ihr gehört das Hotel Bossa Nova, in dem Familie Cochrane die ersten Tage nach der Explosion Unterschlupf fand. Wie auch viele andere Libanesen, die teilweise bis heute noch da sind oder Abstand von den Trümmern brauchen, in denen sie sonst derzeit leben müssen. "Diese Politiker werden uns niemals in Würde leben lassen", sagt sie und klingt hoffnungslos.
Seit Januar 2019 betreiben die Libanesin Hauser und ihre Familie das Hotel Bossa Nova im Stadtteil Sin el Fil, gute fünf Kilometer Luftlinie vom Hafen von Beirut entfernt, der Ort an dem sich die Explosion ereignete. Die Glasfassade des Hotels ging dabei trotz der Entfernung zu Bruch. Ihr Ehemann, Hotel-Mitbetreiber Sebastian Kracun, stand zu dem Zeitpunkt an der Rezeption. Glücklicherweise wurde niemand verletzt.
Ohne Geld kein Neuanfang
[embed:render:embedded:node:41134]"Natürlich denken auch wir darüber nach, zu gehen", sagt Kracun. "Derzeit können wir die Kosten für das Hotel noch decken, auch wenn wir nur in libanesischen Pfund bezahlt werden und umgerechnet 22 Dollar für ein Zimmer pro Nacht einnehmen, aufgrund der Währungsabwertung."
Diese liegt mittlerweile bei 80 Prozent. Doch wie lange sie das Hotel so noch halten können, ist fraglich. Denn alle Güter werden importiert und die Preise explodieren.
"Selbst wenn wir gehen wollten, wird uns das unmöglich gemacht, denn wir kommen nicht an unser Geld auf der Bank. Wie sollen wir woanders neu anfangen ohne Kapital?", sagt Christine Hauser. Sollte jedoch Schlimmeres passieren, etwa ein Bürgerkrieg, würden die beiden Akademiker das Hotel schließen und das Land verlassen. Ziel: Großbritannien. Sebastian Kracun hat neben dem deutschen auch einen britischen Pass, die zwei Kinder ebenso.
Traumatisierte Libanesen
"Alles was hier passiert, liegt nicht mehr in unseren Händen", sagt die Hotel-Besitzerin. Umweltverschmutzung, Berge von Müll, abgelaufene Medikamente, abgelaufene Lebensmittel – das alles ist mittlerweile Alltag im Libanon. "Sie töten uns langsam, auch von innen. Sie haben uns für immer verändert. Ich glaube nicht, dass wir irgendwann nochmal wirklich unbeschwert sein können, egal wo wir leben", so Christine Hauser. "Das, was passiert ist, werden wir nie vergessen. So viele Menschen leider unter dem Trauma und haben Angstzustände", sagt sie. Auch ihr Sohn leidet unter Albträumen.
Auch Cindy Chemaly Cochrane hat immer wieder Panikattacken. Sie sagt, sie werde Online-Therapiesitzungen in Anspruch nehmen, sobald sie aus Beirut heraus ist. Eine libanesische Therapeutin hat sie bereits. "Wir werden in Irland ganz von neu anfangen. Eine Rückkehr nach Beirut planen wir nicht - nicht solange es dort keine grundlegende Änderung gibt."
Diana Hodali
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