Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner!
„Alle Wände waren voller Kunst“, erzählt Houda al-Khodr stolz, während sie durch ihre Wohnung führt. Im Bad sind drei hellblaue Fliesen herabgefallen, die Wand steht schief Richtung Wanne. Der Spiegel im Schlafzimmer ist zerbrochen, der Kleiderschrank voller Kerben. Die Schlafzimmertür lässt sich nicht schließen, der Holzrahmen ist gebrochen. Das Sofa ist von Glassplittern zerschlitzt, ebenso die Gardinen und der Holzschrank – eine Handanfertigung ihres Mannes Mounir. Die Ölgemälde des Hobbykünstlers sind ebenfalls von Scherben durchlöchert. Für die Familie sind damit die Erinnerungen an das schöne Zuhause zerstört worden.
Am 4. August explodierten 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen der libanesischen Hauptstadt Beirut. 190 Menschen starben, rund 6.000 wurden verletzt, knapp 300.000 verloren ihr Zuhause. Im Hafen klafft ein Krater von 200 Metern Durchmesser, Medizin- und Nahrungsmittelvorräte wurden durch die Detonation in den Lagern zerstört.
Die zerfetzten Wände des Getreidespeichers stehen in knapp 900 Meter Luftlinie vom Haus der Al-Khodrs. Drei blau-rote Ladekräne sind durch ein großes Loch in der Wohnzimmerwand zu sehen.
Das Geschäft mit Aluminium und Glas boomt im Libanon
Auch einen Monat nach der Explosion haben viele der rund 40.000 beschädigten Gebäude keine neuen Fenster. Das Geschäft mit Glas und Aluminium boomt, weil die Nachfrage hoch ist, steigen die Preise. Die Katastrophe trifft das Land inmitten seiner stärksten Wirtschaftskrise. Zehntausende Menschen verloren ihre Arbeit; die lokale Währung verlor 80 Prozent ihres Wertes. Deshalb können sich auch die Khodrs den Ersatz für zerbrochene Fenster und Türen nicht leisten. Dabei wären sie das Minimum. „Mein Zuhause ist nicht nur Glas und Aluminium“, sagt Houda al-Khodr wütend.
Am Morgen klingelt Sarah Taleb. Die 28-Jährige bringt Farbeimer und einen Spachtel mit. 600.000 Libanesische Pfund, knapp 100 Dollar, kostet es, die Wohnung neu zu streichen. Über Facebook hat Taleb das Geld dafür gesammelt. Am Montag spachtelt sie zunächst die rissige Wandfarbe ab.
„Es ist nicht nur selbstlos, vor Ort zu sein und den Leuten zu helfen“, sagt Thaleb. „Wenn du nicht dem sterbenden Nachbar hilfst, macht es niemand. Du fühlst dich privilegiert, überhaupt noch am Leben zu sein.“
In den nächsten Tagen möchte sie die Löcher mit Strukturpaste füllen. „Wenn du auch nur einen Pfund aus eigener Tasche zahlst, nehme ich dein Angebot nicht an“, sagt der 64-Jährige Mounir al-Khodr ernst. „Ich bin nämlich kein Bettler, weißt du?“
Der Familienvater gibt Sarah Taleb einen Kuss auf die Wange. Sie erzählt, wie sie vor einigen Tagen durch die Nachbarschaft ging und fragte, was die Familie benötigte. Als sie versprach, zurückzukommen und zu streichen, antwortete Mounir al-Khodr, der Hausbesitzer: „Wenn du das machst, küsse ich deinen Hintern.“ Beide lachen, als sie das erzählen. „Ich lache, aber eigentlich bin ich traurig“, sagt Al-Khodr dann. „Ich kann nachts nicht schlafen.“
Beirut wurde oft zerstört
Es ist das erste Mal, dass Mounir al-Khodr auf Hilfe angewiesen ist. Dabei ist sein Zuhause oft zerstört worden. Er klopft gegen die Wand im Wohnzimmer, ein paar Brocken fallen heraus, offenbaren ein Loch. „Schau, hier ist eine Bombe eingeschlagen. Wie oft habe ich das Gebäude repariert! Es hat mehr als 60 Spuren von Granaten und Geschossen.“
Beirut ist tausend Mal gestorben und tausend Mal wieder auferstanden. Das Mantra der Resilienz lässt sich in der Stadt verteilt auf großen Plakattafeln erkennen. Der Bürgerkrieg von 1975 bis 1990, 21 Mordanschläge auf Politiker, der Krieg mit Israel 2006 – Beirut falle und stünde stärker wieder auf. Ein Mythos, der vertuscht, dass korrupte Politiker und Geschäftsmänner ungestraft davonkommen.
„Scheiß auf Resilienz“, sagt Sarah Taleb. „Wir sind so an das Trauma gewöhnt, dass wir es einfach unter den Teppich kehren und weitermachen. Aber wir sind nicht resilient. Wir kehren nur einfach zu dem Denken zurück: Solange kein Krieg ist, geht es uns gut.“
Nur 30 Prozent der Schäden sind versichert
Vor dem Mittagessen klingelt Sohn Hadi. Der 33-Jährige kommt von der Arbeit zurück, er vertreibt in einer libanesischen Firma amerikanische Medizinprodukte. „Meine Freizeit nutze ich, um das Haus zu reparieren“, erzählt er. „Mein Auto ist beschädigt, die Windschutzscheibe ist zerbrochen und das Dach kaputt. Die Reparatur kostet 1.600 US-Dollar.“
Der Schaden durch die Explosion liegt bei schätzungsweise 10 bis 15 Milliarden US-Dollar. Nur 30 Prozent der Schäden seien überhaupt versichert, so die Auskunft der Versicherungen. Sie warten darauf, dass die Ursache der Explosion geklärt wird, um zu bestimmen, ob ihre Policen greifen
.
Die Detonation gilt als Unfall. Doch die Ermittlungen stocken: Fast einen Monat nach der Explosion gibt es noch immer keine Erkenntnis über den genauen Verlauf der Geschehnisse. Und das politische Leben stockt: Das Parlament ist im Urlaub, die Regierung zurückgetreten. Der neue Ministerpräsident, Mustapha Adib, sucht nach Personal für sein Kabinett.
„Die Regierung? Bis jetzt hat man sie hier nicht wahrgenommen“, sagt der 33-Jährige Hadi al-Khodr. Er ist nicht wütend, aber resigniert. „Wenn du etwas brauchst, musst du schon zu den Religionsführern gehen. Die Regierung wird dir jedenfalls nicht helfen.“
Furcht vor Vertreibung
1990, nach 15 Jahren Bürgerkrieg, war der Wiederaufbau von Beirut eine Goldgrube für Regierungsbeamte und ihre Verbündeten. Verträge gingen an Freunde, Hilfsgelder verschwanden und Patronage-Netzwerke blühten auf.
Der Sohn Hadi al-Khodr fürchtet, dass der nun anstehende Wiederaufbau wieder nur den Reichen nützt. „Mit all den Menschen, die kamen und uns helfen wollten, kamen auch Leute, die Profit machen wollten. Sie fragten, ob ich ihnen das Aluminium oder mein Auto für wenig Geld verkaufe.“
Das Viertel in dem die Khodrs wohnen war lange Zeit nach ihnen benannt, nun ist der Stadtteil auch als „Karantina“ bekannt. Seit den 1960er Jahren beherbergt „Karantina“ eine verarmte Arbeiterklasse, die durch die Industrie verdrängt wurde. Die Politik begünstigte die Verdrängung, erzählt Hadi al-Khodr: „Sie haben alles hergebracht, das irgendwie stinkt: Die Abfallentsorgung, den Fischmarkt, ein Schlachthaus. Gestank, Gestank, Gestank. Sie wollen die Menschen vertreiben.“ Er glaubt, dass die Politiker sich Grundstücke in guter Lage direkt am Hafen aneignen wollen.
Ein pfeifender Ton, die Klingel. Ingenieur Zuhair Hashem, 26 Jahre, trägt einen weißen Helm und kommt von der „Assoziation für soziale Entwicklung“ in Beirut. „Wir helfen den Leuten, damit sie weiter in ihren Häusern schlafen können und sie nicht verlassen müssen.“ Hashem trägt die Quadratmeterzahl der Wohnung in eine Tabelle ein, vermisst die Löcher für Fenster und die Maße der Türrahmen. „Morgen werden wir jede einzelne Tür und jede Wand reparieren“, verspricht er.
„So viele Organisationen kamen und haben vermessen, Bilder gemacht“, sagt Houda al-Khodr nach seinem Besuch. „Eine aus Norwegen, eine aus den Emiraten, eine von… ich weiß auch nicht woher…!“ „Aus Bangladesch und Kurdistan“, wirft der Vater scherzend ein. „Jetzt übertreibt er aber“, erwidert Hadi und beide müssen lachen. Doch wer am Ende die Reparatur ausführen wird, weiß keiner. „Wem können wir schon wirklich glauben?“, meint Sohn Hadi.
Julia Neumann
© Qantara.de 2020