"Das Regime verspielt eine historische Chance"

Der marokkanische König Mohammed VI  kündigte am 9.3.2011 eine Verfassungreform als Reaktion auf die Massenproteste im Zuge des arabischen Frühlings an. (Foto: picture alliance/ dpa)
Der marokkanische König Mohammed VI kündigte am 9.3.2011 eine Verfassungreform als Reaktion auf die Massenproteste im Zuge des arabischen Frühlings an. (Foto: picture alliance/ dpa)

In Marokko bedarf es heute keines Vorstoßes mehr, um die Verfassungsreform von 2011 rückgängig zu machen. Denn der herrschenden Elite im Land ist es längst gelungen, ihre eigene, autoritäre Lesart der neuen Verfassung durchzusetzen. Eine Analyse von Mohamed Taifouri

Essay von Mohamed Taifouri

Zwölf Jahre nachdem König Mohammad VI. 1999 den Thron bestiegen hat, ging mit dem Arabischen Frühling ein Schrei nach einer Verfassungsreform durch das Land.

Damals gründeten in Marokko zivilgesellschaftliche und politische Gruppen die "Bewegung 20. Februar“ und forderten politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Reformen. Die Forderung nach einer Verfassungsreform verbunden mit der Umwandlung der Staates in eine parlamentarische Monarchie stand dabei an erster Stelle.

Mit dem Referendum vom 1. Juli 2011 hat sich Marokko dann eine neue Verfassung gegeben. Nach amtlichen Angaben wurde die Reform damals mit 98 Prozent der Stimmen und einer Wahlbeteiligung von 72 Prozent angenommen.

Ein Jahrzehnt nach Inkrafttreten der neuen Verfassung scheint sich in Marokko der Kreis zu schließen. Das Land kehrt offenbar zum Status quo vor 2011 zurück. Die herrschende staatliche Elite – der sogenannte Makhzen – hat ihre frühere Vormachtstellung offenbar wiederhergestellt. Tatsächlich konnte sie Schritt für Schritt all das zurückgewinnen, was sie zur Zeit des Arabischen Frühlings aufgrund lokaler, regionaler und internationaler Umstände aufgeben musste.

Auf dem Weg zum Status quo vor 2011

Der Makhzen scheint zudem alle Spuren der "revolutionären“ Ereignisse aus dem kollektiven Gedächtnis der Marokkaner tilgen zu wollen. So ist jedes Gedenken an die "Bewegung des 20. Februar“ weiterhin verboten. Zehn Jahre nach Verabschiedung der Verfassung von 2011 gibt es nichts, was die Erinnerung an sie wachhält.

In den offiziellen Medien, der Presse oder den mit dem Regime verbundenen Institutionen und Einrichtungen gibt es nicht den leisesten Hinweis auf die Bewegung. Der zehnte Jahrestag der "Verfassung der Rechte und Freiheiten“ findet in den staatlichen Medien nicht statt. Dabei hatte Marokko mit dieser Verfassung eine in der arabischen Welt "beispiellose“ Reformleistung vollbracht.

Zugegebenermaßen war die neue Verfassung, deren Ausarbeitung drei Monate dauerte, ein Konsenspapier: Jeder, der darin etwas sucht, wird in dem Text fündig. Die Verfassung spiegelt konservative und traditionalistische Einflüsse ebenso wider wie moderne, legalistische und demokratische.

Die Verfassung hat dazu beigetragen, das Machtgleichgewicht zwischen den staatlichen Institutionen neu zu regeln. Sie hat die Befugnisse der Regierung bei der Verwaltung des Landes erweitert, indem sie ursprünglich der Monarchie zugeordnete Herrschaftsbereiche stärker kontrollieren durfte. Gleichzeitig stärkt die Verfassung aber auch die Exekutive des Königshofs, indem sie den Diskurs und die Konsultation zwischen den Institutionen fördert.

Journalist Souleiman Raissouni (Foto: Facebookseite/ Souleiman Raissouni)
حُكم على الصحفي المغربي سليمان الريسوني بالسجن خمسة أعوام بتهم الاعتداء الجنسي واحتجاز أحد الأشخاص، وهو ما نفاه الريسوني بشكل قاطع. ويرى حقوقيون محليون وأجانب أن إدانته سياسية لقصف قلمه "المزعج" و"المثير للجدل".

Der Makhzen reizt das Spiel aus bis zum letzten

Heute ist es in Marokko gar nicht nötig, die Zustände vor der Verfassungsreform mit einem autoritären Vorstoß wiederherzustellen. Dem Makhzen ist es längst gelungen, seine eigene Lesart der Verfassungstexte durchzusetzen. Denn Jahre nach dem Inkrafttreten der Verfassung ist ihre Auslegung durch den Makhzen das Einzige, was sich wirklich geändert hat.  Unabhängig von diesem autoritären Verständnis der Verfassung bleibt der Wortlaut dabei unverändert.

Die Verfassung befasst sich mit den Mechanismen des politischen Lebens, seinen Konflikten, seiner Dynamik und den beteiligten Akteuren. Das verleiht ihr Substanz und erfüllt sie mit Leben. In einem demokratischen Umfeld lassen sich ihre Bestimmungen demokratisch auslegen. Unter der Kontrolle traditioneller und konservativer Kräfte – sprich undemokratischer Kräfte – lässt sie sich autoritär auslegen.

Mit anderen Worten: Dem Autoritarismus ist es gelungen, seine eigene Lesart der geschriebenen Verfassung durchzusetzen – nämlich die der ungeschriebenen Vorstellungen aus Traditionen, Bräuchen und Machtspielen.

Damit ist der bisher dritte Versuch gescheitert, in Marokko demokratische Reformen einzuführen. Zuvor hatten bereits die Premierminister Abdullah Ibrahim 1958 und Abd al-Rahman al-Youssoufi 1998 versucht, Marokko schrittweise und dauerhaft in Richtung Demokratie zu führen.

Doch das Königreich ist auch heute noch weit davon entfernt, zum Klub der demokratischen Länder zu gehören, obwohl die erste Verfassung bereits 1962 verabschiedet worden ist und 1970, 1972, 1992 und 1996 geändert wurde, den Verfassungsentwurf von 1908 nicht mitgezählt.

Der Makhzen scheint nicht zu begreifen, wie kostspielig es werden kann, Reformen auf die lange Bank zu schieben. Denn Reformen werden kommen, sobald alle Karten ausgereizt sind.

 

Mit der Ablehnung des dritten Reformversuchs im Jahr 2011 wurden bereits zwei Karten ausgereizt, um im Bild zu bleiben: Erstens wurde aus der neuen Verfassung von 2011, die einen demokratischen Vertrag zwischen den Menschen und ein für alle geltendes Gesetz darstellen sollte, eine Verfassung voller Kompromisse und Zugeständnisse. Aus ihr wurde eine Verfassung der guten Absichten, die alles verspricht und nichts hält, nachdem es den Strippenziehern im HIntergrund gelungen war, sie mit 21 Zusätzen zu verwässern, ohne die sie wohl kaum in Kraft getreten wäre.

Blind für die weltweiten Veränderungen

Zweitens bildeten die Islamisten, die seit der Thronbesteigung von König Mohammed VI. in Wartestellung sind, eine starke Opposition. Das trug dazu bei, die Legitimität des politischen Spiels im Lande zu stärken. Das Regime wollte die Islamisten nicht einbeziehen, nachdem das Experiment der Machtteilung zwischen Königshaus und Regierung gescheitert war.

Stattdessen versuchte man, das tunesische Modell zu kopieren, und gründete eine "amtliche“ Partei, die "Partei der Authentizität und Modernität“ (Parti Authenticité et Modernité, PAM). Ihr Gründer ist Fouad Ali El Himma, ehemaliger Innenminister und enger Vertrauter des Königs. Alternativ hätte man auf die Karte der Islamisten setzen können. Doch die moderat islamistische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) verlor während ihrer zweiten Amtszeit an moralischer Autorität und wurde in die Knie gezwungen, ein Schicksal, das viele Parteien in Marokko teilen.

Der Makhzen verspielt auf diese Weise seltene historische Chancen mit denselben alten Instrumenten und überholten Methoden wie immer. Das geschieht zu einer Zeit, in der der gesellschaftliche Wandel die Welt und gerade auch Marokko - aufgrund der geografischen Nähe des Landes zu Europa - grundlegend verändert. Das zeigt, wie blind die Entscheidungsträger für Art und Geschwindigkeit dieser Veränderungen sind.

Schließlich war und ist die Forderung nach Reformen und Veränderungen dringlich. Das war gestern so und ist es auch heute noch. Dabei sollten wir nicht vergessen, dass jetzt nach 2011 und 2016 die dritten Parlamentswahlen unter der neuen Verfassung anstehen.

Die Zeit ist reif, mit dem bisherigen unberechenbaren Modus Operandi zu brechen. Auch wenn sich die Krise vermutlich erneut aussitzen und Zeit gewinnen lässt, die man ansonsten hätte für Reformen nutzen können: Eine Strategie zur Sicherung von Kontrolle und Dominanz ist das langfristig definitiv nicht.

© Qantara.de 2021

Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers