Von einem der auszog, den Terror zu lernen
Nachdem sein Debütfilm "Hedi" im Wettbewerb der Berliner Filmfestspiele Weltpremiere feierte, sagte der tunesische Regisseur Mohamed Ben Attia in einem Interview mit dem Fachblatt "Variety": "Ich arbeite bereits an meinem nächsten Film. Es ist wieder eine einfache Geschichte über gewöhnliche Menschen, die mit Sachen konfrontiert werden, die größer und stärker sind als all das, was diese Menschen sich jemals hätten vorstellen können."
"Dear Son" heißt dieser Folgefilm, der nun erschienen ist und Ben Attias damalige Aussage vollkommen bestätigt hat. Im Kern geht es wie bei "Hedi" erstmal nur um Alltägliches. Der Regisseur zeigt uns ganz gewöhnliche Menschen in ganz gewöhnlichen Situationen: Eltern, die beide zur Arbeit gehen, ein Sohn, der sich auf das Abitur vorbereitet. Zuhause sitzen sie gemeinsam am Esstisch, machen Witze, es herrscht eine angenehme, liebevolle Atmosphäre. Doch dem Sohn geht es bald nicht mehr so gut, klar, der Prüfungsstress, auch das ist üblich. Vater und Mutter zahlen die Arztkosten, auch wenn sie knapp bei Kasse sind. Das Wohlbefinden ihres einzigen Sohns ist ihnen wichtiger als alles andere. Auch ihr finanzieller Engpass.
Keine Spur von Hollywood
Und plötzlich ist er weg. Ein einfacher Zettel, den Sami (Zakariya Ben Ayyed) im Zimmer hinterlassen hat, gibt seinen Eltern Riadh (Mohamed Dhrif) und Nazli (Mouna Mejri) Auskunft über seinen neuen, ungefähren Standort. Er befindet sich jetzt in Syrien und hat sich einer Terrormiliz angeschlossen – im Film bleibt der IS ungenannt, doch man kann sich eigentlich selbst denken, um welche Organisation es geht.
Riadh und Nazli können diese Wendung nicht verstehen und die Zuschauer in diesem Moment erst recht nicht. Der bis dahin so unschuldige, fast schon harmlos wirkende Sami, von dem man angenommen hatte, dass er die bevorstehende Abiturprüfung meistern und die Kopfschmerzen, die ihn seit Wochen plagen, überstehen wird, dieser Sami soll jetzt plötzlich ein Terrorist sein?
Man muss Ben Attia hoch anrechnen, dass es in "Dear Son" weder um einen irregeleiteten jungen Mann geht, noch um den Dschihadismus an sich. Vielmehr richtet der Filmemacher seinen Fokus auf Riadh und Nazli und erforscht, wie solche bösen Überraschungen auf einzelne Familienangehörige wirken.
Wäre dies ein Hollywood-Film, dann bekäme man vielleicht unzählige Szenen vom Gefecht in Syrien, man würde Sami ständig als Gotteskrieger zu sehen bekommen. Daran ist Ben Attia nicht im Geringsten interessiert. Er verortet seine Geschichte auf die Häuslichkeit; ohne Sami fühlt sich die Wohnung der Eltern noch leerer an und zwischen den beiden entwickelt sich eine unsägliche, stille Kälte.
Sie fangen an, sich gegenseitig die Schuld zu geben und Ben Attia gelingt es, diese Dialoge nicht ins Melodramatische abdriften zu lassen. Und auch das ist eine große Stärke des Films: die Menschen befinden sich zwar in einer unglaublichen Situation, doch das Drehbuch bleibt authentisch und real.
Gegen die Wand
Überhaupt ist alles in diesem Film mit einer souveränen Feinfühligkeit inszeniert. Und es hilft, dass mit Dhrif ein Schauspieler in der Hauptrolle zu sehen ist, der mit ganz wenigen Worten auskommt. Seine traurigen Augen machen die ganze Arbeit, vor allem im dritten Akt, als er auf eigene Faust in die Türkei geht, um Sami zu finden und zurück nach Tunesien zu holen.
In gewisser Weise erinnert diese Sequenz an Fatih Akins "Gegen die Wand", in der sich der Protagonist auf dem Weg nach Istanbul macht, um seine alte Geliebte zu finden. Nur dass es hier ein Vater ist, der Detektiv spielt.
Blickpunkt Tunesien
Mit "Dear Son" kommentiert Ben Attia auch die Natur eines Transformationslandes wie Tunesien, in der die Arabellion 2010 ihren Anfang nahm und Menschen aus der Mittelschicht, wie eben Riadh und Nazli, der jüngeren Generation keine wirkliche Perspektive bieten können. Dass sich ein junger Mann wie Sami, der ja eigentlich aus einem guten Elternhaus stammt, gegen eine Zukunft in Tunesien entscheidet, führt in gewisser Weise auch auf die Tatsache zurück, dass Riadh bald in Rente geht und keine Ersparnisse hat.
Sami will nicht so wie sein Vater enden und ob das sein wirklicher Beweggrund ist oder ob es nur Riadhs Vermutung ist, das lässt Ben Attia offen. Eine Traumsequenz unterstreicht die Befürchtungen des Vaters und auch sonst ist es ein Fakt, dass die meisten IS-Kämpfer aus Tunesien stammen. Als er gegen Ende des Filmes Samis Facebook-Profil entdeckt, bleibt ihm nichts Weiteres übrig, als sein Kopf über diesen "Idioten" zu schütteln. Es verschlägt ihm die Sprache.
Verschiedene Auseinandersetzungen
Terrormilizen haben in jüngster Zeit unter anderem viele Sachbuchautoren, Theaterregisseure und vor allem das Kino inspiriert. Die britisch-pakistanische Schriftstellerin Kamila Shamsie schreibt etwa in ihrem preisgekrönten Roman "Hausbrand" über die politischen Aspekte, im Dokumentarfilm "Kinder des Kalifats" begleitet Talal Derki eine islamistische Familie.
Und Timur Bekmambetov geht das Ganze in "Profile" als Thriller an; eine britische Undercover-Journalistin nimmt Kontakt mit einem Dschihadisten in Syrien auf und gewinnt sein Vertrauen, der gesamte Film spielt sich über einen Bildschirm ab. "Dear Son" von Mohammed Ben Attia ist ein differenzierter Beitrag zu dieser anspruchsvollen und herausfordernden Thematik, der ein breites Publikum verdient.
Schayan Riaz
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