Pilgern in Zeiten von Corona
Dass die Corona-Pandemie auch vor dem religiösen Leben keinen Halt macht, ist nicht erst seit dem jüdischen Pessach-Fest und den christlichen Osterfeiertagen spürbar. Die inzwischen weltweit geltenden weitreichenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens erfassen auch religiöse Zusammenkünfte, wie gemeinsame Gebete, Gottesdienste und Trauerfeiern.
Für Muslime stellt sich aktuell vor allem die Frage, wie ab Ende April das gemeinschaftliche religiöse Leben während des Fastenmonats Ramadan aussehen wird. Zur gleichen Zeit rückt eine zweite wichtige Frage in das Blickfeld vieler Gläubiger und Religionsgelehrter: Könnte die globale Ausbreitung des Coronavirus Saudi-Arabien zu dem Entschluss verleiten, den diesjährigen Hadsch abzusagen? Wenn ja, wäre eine solche staatliche Entscheidung auf Grundlage des Infektionsschutzes auch theologisch gedeckt?
Muslimisches Leben und die Corona-Pandemie
Noch bevor in Deutschland weitreichende Schritte zur Eindämmung der Corona-Pandemie ergriffen wurden, stieg auf der Arabischen Halbinsel die Zahl der an Covid-19 erkrankten Personen deutlich. Bereits Anfang März entschied sich das saudische Königshaus, die Umra bis auf Weiteres auszusetzen und Gläubigen aus aller Welt die Einreise zum Zwecke dieser ganzjährigen kleinen Pilgerfahrt vorerst zu untersagen.
Am darauffolgenden Freitagsgebet in der Al-Haram-Moschee von Mekka nahmen nur einige tausende Menschen teil, ein Bruchteil der Gläubigen, die normalerweise zum gemeinschaftlichen Gebet erscheinen. Einige Tage später untersagte Saudi-Arabien zunächst das Freitagsgebet in sämtlichen Moscheen des Landes mit Ausnahme der Al-Haram-Moschee in Mekka und der Prophetenmoschee in Medina. Inzwischen sind auch die beiden wichtigsten Gotteshäuser des Islams für den Publikumsverkehr geschlossen.
Auch in anderen mehrheitlich muslimischen Ländern sprachen Behörden und Religionsgelehrte frühzeitig Empfehlungen aus, um einer weiteren Verbreitung von SARS-CoV-2 entgegenzuwirken. In der Türkei etwa befand die Religionsbehörde Diyanet die Teilnahme an Gemeinschaftsgebeten (hierunter auch das Freitagsgebet) als generell unzulässig für all jene Gläubigen, die bei sich selbst Krankheitssymptome feststellten.
Eine ähnliche Argumentationslinie verfolgte ein Rechtsgutachten des Fatwa-Rates der Vereinigten Arabischen Emirate. Personen mit Krankheitssymptomen wurde untersagt, am gemeinschaftlichen Freitagsgebet teilzunehmen; Ältere und Vorerkrankte wurden von der Pflicht entbunden, sie sollten stattdessen zu Hause das reguläre Mittagsgebet verrichten.
Eine solche ruḫṣa, die Ausnahme von einer grundsätzlichen religiösen Pflicht, begründeten die emiratischen Rechtsgelehrten unter anderem mit Sure 22, Vers 78 des Korans und dem dort enthaltenen Hinweis, dass Gott den Menschen in der Religion nichts auferlegt, was sie beschwert. Ebenso wurde die prophetische Sunna herangezogen, nach der den religiösen Geboten stets im Rahmen der eigenen Fähigkeit bestmöglich zu folgen ist.
In Kuwait wurde selbst der Gebetsruf abgeändert. Anstatt zum Gebet eilen zu sollen ("ḥayya ʿalā ṣ-ṣalāt"), rufen die Muezzine des Landes die Menschen nun dazu auf, in ihren Häusern zu beten ("aṣ-ṣalāt fī buyūtikum"). Das öffentliche religiöse Leben in nahezu der gesamten islamischen Welt steht vorerst still.
In Deutschland folgten muslimische Gemeinden ebenfalls umgehend den Empfehlungen von Virologen und staatlichen Behörden. Der Zentralrat der Muslime kündigte am 13. März 2020 an, dass aufgrund der aktuellen Lage bis auf Weiteres von der Teilnahme am gemeinschaftlichen Freitagsgebet abgeraten werde. Mit dieser Entscheidung wolle man der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden und eine weitere Ausbreitung des Coronavirus verhindern.
Am selben Tag entschied auch der Rat der Islamischen Gemeinschaften in Hamburg (Schura), dass bis Ende März keine gemeinschaftlichen Freitagsgebete in Hamburgs Moscheegemeinden stattfinden würden. Dies war vor allem vor dem Hintergrund der vorangegangenen zweiwöchigen Schulferien im Stadtstaat und den vielen rückkehrenden Reisenden ein wichtiger Schritt. Die Regelung gilt auch weiterhin. Stattdessen steht Gläubigen nun wöchentlich eine Auswahl virtueller Freitagspredigten auf der Website der Schura Hamburg zur Verfügung.
Das Freitagsgebet abzusagen, trifft muslimische Gemeinden weltweit schwer, theologisch zu rechtfertigen ist es aber durchaus. So entfällt zwar die Freitagspredigt und das (zumindest im sunnitischen Islam) als religiöse Pflicht (farḍ) geltende gemeinschaftliche Gebet an diesem Tag, das erforderliche Mittagsgebet als eines von fünf täglichen Gebeten können Gläubige aber dennoch verrichten.
Diese zweite Säule (rukn) des Islams kann also weiterhin erfüllt werden. Was aber, wenn eine der fünf Säulen (arkān) von staatlicher Seite und aus Gründen des Infektionsschutzes für ein Jahr unterbunden wird? Ist eine mögliche Absage des Ende Juli beginnenden Hadsch ebenso einfach umzusetzen?
Pilgerfahrt und Infektionsschutz
Als Hüter der zwei heiligen Stätten (ḫādim al-ḥaramain aš-Šarīfain) sieht sich das saudische Königshaus jedes Jahr vor die Aufgabe gestellt, die heiligen Städte Mekka und Medina für die Pilgerfahrt von Muslimen aus aller Welt zu öffnen und gleichzeitig die Gesundheit und Sicherheit der Gläubigen zu gewährleisten. In der Geschichte des Islams war der jährliche Hadsch nicht immer problemlos möglich.
Politische und zum Teil kriegerische Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Kalifaten und anderen muslimischen Gruppierungen führten gerade in der islamischen Frühzeit zu teilweise mehrjährigen Absagen des Hadsch. Infolge des Einmarsches Napoleon Bonapartes in Ägypten wurde die Pilgerfahrt zuletzt im Jahre 1798 ausgesetzt. Der Feldzug der Franzosen machte eine sichere Reise nach Mekka und Medina für viele Muslime unmöglich.
Auch Saudi-Arabien, in dessen Hoheitsgebiet die zwei heiligen Städte inzwischen liegen, hat bereits Erfahrungen mit dem gesundheitlichen Risiko für die von rund 60.000 auf inzwischen über 2 Millionen angewachsenen jährlichen Hadsch-Reisenden gemacht. Bereits im Jahre 2013 wurden die verantwortlichen Behörden durch die MERS-Epidemie, eine ebenfalls durch Coronaviren verursachte schwere Atemwegserkrankung, vor eine große Herausforderung bei der Planung der jährlichen Pilgerfahrt gestellt. Abgesagt wurde der Hadsch damals jedoch nicht.
Die jetzigen Bedenken Saudi-Arabiens scheinen gleichwohl berechtigt. Im Iran, dem von der Corona-Pandemie am schwersten betroffenen Land im Mittleren Osten, gehen Experten inzwischen davon aus, dass sich das Virus von Ghom aus verbreitete. Als Zentrum der schiitischen Geistlichkeit ist die Stadt jährliches Ziel für Millionen von Pilgerreisenden.
Dass dieser Ort Ausgangspunkt der landesweiten Covid-19-Epidemie war, zeigt, dass Pilgerfahrten in Zeiten der Pandemie ein hohes Risiko bergen. So verwundert es auch nicht, dass saudische Behörden Anfang April Muslime weltweit dazu aufriefen, ihre Vorbereitungen für den Hadsch vorerst einzustellen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt könne keine verlässliche Aussage darüber getroffen werden, ob die Pilgerfahrt im Sommer stattfinde.
Theologische Begründungen
Betrachtet man die schnellen und weitreichenden Reaktionen der muslimischen Gelehrsamkeit mit Blick auf das Freitagsgebet, so ist nicht davon auszugehen, dass die führenden saudischen Gelehrten einem möglichen Wunsch des Königshauses nach einer Absage des diesjährigen Hadsch widersprechen würden. In der Tat ist in der nahezu weltweiten Suspendierung des Freitagsgebets und sonstiger gemeinschaftlicher gottesdienstlicher Handlungen quasi ein moderner iǧmāʿ, ein umfassender Konsens der Rechtsgelehrten, zu erkennen.
Die islamische Tradition hält einige passende Präzedenzen bereit, um im Interesse des Infektionsschutzes umfangreiche Maßnahmen auch mit Blick auf die Religionsausübung zu treffen, was den weitreichenden Konsens ein Stück weit erklärt. Einer in den Quellen gut belegten Prophetentradition (ḥadīṯ) zufolge forderte auch Muḥammad die Gläubigen auf, ein Land, in dem bekannterweise die Pest ausgebrochen sei, nicht zu bereisen und das eigene Land nicht zu verlassen, wenn dort eine solche Epidemie herrsche. Diese frühe Variante einer Reisebeschränkung kann auch in der Gegenwart als Ausgangspunkt für umfassende gesundheitliche Präventionsmaßnahmen dienen.
Zudem enthält das islamische Recht einige zentrale Rechtsmaxime, auf deren Grundlage weitreichende Einschränkungen der individuellen und gemeinschaftlichen Religionsausübung möglich wären. Ausgangspunkt dieser Maximen ist der zu den fünf rechtsschulübergreifenden Grundmaximen zählende Rechtssatz "Schaden muss beseitigt werden" (aḍ-ḍarar yuzāl).
Weitere Maxime wie "die Abwehr von Schaden hat Vorrang vor dem Erwerb von Nutzen" (darʾ al-mafāsid muqaddam ʿalā ğalb al-maṣāliḥ) und "das Risiko eines individuellen Schadens wird getragen, um öffentlichen Schaden abzuwehren" (yutaḥammalu aḍ-ḍarar al-ḫāṣṣ li-ağli dafʿ aḍ-ḍarar al-ʿāmm) konkretisieren diesen Grundsatz und geben Lösungsvorschläge für Fälle, bei denen Nutzen und Schaden kollidieren.
Diese Maxime könnten dazu dienen, eine möglicherweise auch kurzfristige Absage des anstehenden Hadsch zu begründen. In der ersten Version wäre der Schaden die weitere Verbreitung des Coronavirus und eine damit einhergehende rasant steigende Zahl der an Covid-19 Erkrankten während der Pilgerfahrt und im Anschluss an diese.
Demgegenüber steht der individuelle Nutzen der einzelnen Pilger, die durch den Hadsch ihre religiöse Pflicht erfüllen, sowie, nach Auffassung vieler Rechtsgelehrter, auch ein allgemeiner Nutzen, da der jährliche Hadsch ebenso einem kollektiven Interesse an der Wahrung der Religion dient.
Schutz des Lebens und Schutz der Religion
Es kollidieren damit zwei Güter, die nach muslimischer Rechtsauffassung in den Bereich der notwendig zu schützenden Interessen fallen: Schutz des Lebens durch Maßnahmen gegen Covid-19 und Schutz der Religion durch Vollzug der Pilgerfahrt. Grundsätzlich gilt zwar, dass mit einer Entscheidung bestenfalls Schaden abgewehrt und zugleich Nutzen herbeigeführt werden soll, aber für die Frage nach dem Hadsch während der Corona-Pandemie scheint eine entsprechende Lösung unmöglich. Daher ist im Interesse der Abwehr des genannten Schadens in nicht absehbarem Maße der Nutzen durch die Pilgerfahrt hintenanzustellen.
Die zweite Maxime kann herangezogen werden, um eine mögliche Absage der diesjährigen Pilgerfahrt auch vor dem Hintergrund des großen finanziellen und organisatorischen Aufwands der Pilger zu rechtfertigen. Nicht alle Muslime haben die Möglichkeit, in ihrem Leben den Hadsch zu vollziehen. Sie wird daher auch als eine solche Handlung klassifiziert, die nur unter bestimmten Bedingungen zu einer Pflicht wird, wie etwa gesund zu sein oder die finanziellen Möglichkeiten für die Reise zu haben.
[embed:render:embedded:node:39536]Nichtsdestotrotz betreiben Gläubige weltweit große Anstrengungen, um sich zumindest einmal in ihrem Leben auf die jährliche Pilgerfahrt zu begeben. Der finanzielle Aufwand, aber auch die strenge Visumsvergabe, die oftmals über ein Losverfahren erfolgt, könnten dazu führen, dass Muslime, die in diesem Jahr den Hadsch hätten vollziehen können, in Zukunft keine Möglichkeit hierfür haben werden.
Dieser individuelle Schaden muss aber hinter dem öffentlichen Schaden zurücktreten. Der öffentliche Schaden, der hier sogar in den Bereich der nach muslimischer Rechtsauffassung notwendig zu schützenden Interessen fällt, muss jedoch evident vorliegen und Muslime im Allgemeinen betreffen.
Da dies durch eine erhöhte Ansteckungsgefahr auch über den Kreis der Pilgerreisenden hinaus gegeben ist, tritt das individuelle Interesse hinter dem öffentlichen zurück. Die Maxime verlangt, dass das größere Übel, also die Ausbreitung des Coronavirus und die weitreichenden gesundheitlichen Folgen, vermieden werden muss, auch wenn dies einen individuellen Schaden zur Folge hat.
Zuletzt könnte die Pflicht, die Pilgerfahrt zu unternehmen, unabhängig von beiden Maximen, aber auch schon deshalb entfallen, weil die Rahmenbedingungen der sicheren Reise nicht gegeben sind. Damit wäre eine der Bedingungen, die die Pilgerfahrt zu einer Verpflichtung werden lassen (wie bereits im Jahre 1798) nicht erfüllt. In dieser Auslegung würde Saudi-Arabien mit einer Absage des Hadsch quasi nur auf die bereits veränderten theologischen Rahmenbedingungen reagieren, ohne selbst in den Diskurs einzugreifen.
Es bleibt abzuwarten, wie sich die saudischen Behörden in den kommenden Wochen und Monaten entscheiden werden. Aktuell ist nicht absehbar, inwieweit die globale Corona-Pandemie eingedämmt werden kann, und selbst wenn es gelingt, die Infektionszahlen zu senken, ist hierfür sicherlich eine längerfristige Beschränkung der weltweiten Mobilität erforderlich.
Der persönliche Schaden der einzelnen Gläubigen wird groß sein, aber es mag ihnen Trost spenden, dass solch weitreichende Maßnahmen nicht ohne historisches Vorbild und theologische Grundlage sind.
Lena-Maria Möller und Serdar Kurnaz
© Qantara.de 2020
Lena-Maria Möller vertritt die Professur für Islamisches Recht am Orientalischen Institut der Universität Leipzig.
Serdar Kurnaz ist Inhaber der Professur für Islamisches Recht in Geschichte und Gegenwart am Berliner Institut für Islamische Theologie der Humboldt-Universität zu Berlin.