Der Traum von Freiheit endet in Lesbos
"Wir hatten Hoffnung, aber wir haben sie verloren. Wir dachten die Regierung bringt uns jetzt nach Athen", sagt Muhammad Sator Massi. Der 19-Jährige mit dem roten Trikot sitzt alleine auf einem Kantstein in der prallen Sonne und schaut resigniert auf den Boden. Neben ihm ist die griechische Müllabfuhr zugange und hebt mit einem Kran einen blauen Müllsack nach dem anderen auf die Ladefläche ihres LKW.
Seit heute sind sie dabei die Spuren der letzten Woche zu beseitigen. Auf und neben der Straße, die von der Hauptstadt Mytilini am Flüchtlingslager Moria vorbeiführt, liegen Plastikflaschen, Verpackungen und die Reste von provisorischen Behausungen. Schlägt man sich in die Büsche, sieht man überall Unrat. Das Meer ist nur ein paar Schritte entfernt, aber trotzdem stinkt es hier entsetzlich.
Muhammad ist aus Afghanistan geflohen und ist mit der Familie seiner Tante, ihrem Mann und deren sechs Kindern nach Lesbos geflohen. Neun Monate sind sie bereits hier. Eine furchtbare Zeit, von der er sagt, dass sie ihn schwer gezeichnet hat. Nach dem Brand vergangene Woche machte er sich mit den anderen Campbewohnern auf den Weg in die Hauptstadt. Die Polizei stoppte sie und riegelte den Straßenabschnitt ab.
Auch Muhammad und seine Familie waren gezwungen im Freien zu schlafen, teilweise auf Pappkartons auf dem nackten Boden. Über eine Woche harrten sie aus. Dann begann die Polizei das wilde Lager zu räumen, Abschnitt für Abschnitt. Heute Morgen kamen sie schließlich bei Muhammads Zelt an. Die Familie hatte gerade etwas gegessen, erzählt er. Ein Polizist schmiss ihre Sachen durch die Gegend und schrie die Familie an. Dann nahm er ihren Verschlag auseinander.
Fragwürdige Zustände im neuen Lager
Jetzt gibt es ein neues Lager, Kara Tepe. "Die zwingen uns da hin zugehen. Wir haben keine Alternative. Ich glaube nicht, dass es besser wird als Moria, es wird sich hier nur wiederholen", sagt Muhammad. Wie die meisten hier fürchtet er, dass die Zustände genauso unerträglich oder schlimmer sein werden als in Moria: tausende Menschen auf engstem Raum ohne ausreichend Toiletten und Duschen, zu wenig zu essen, kaum ärztliche Versorgung und jede Nacht Gewalt.
Ein Sprecher des griechischen Migrationsministeriums beteuert, die Zustände im neuen Lager Kara Tepe seien gut. Es gebe Toiletten, fließendes Wasser und Strom und es würden zusätzliche Kapazitäten geschaffen. Menschen, die schon im Camp sind, berichten allerdings das Gegenteil. Es gebe viel zu wenige Toiletten, nur einmal am Tag etwas zu essen und in den großen, weißen Zelten, die vom UNHCR und vom Roten Kreuz aufgestellt wurden, gibt es weder Matratzen noch Decken.
Belastet mit Schadstoffen und Munition?
Das Lager sei innerhalb kürzester Zeit auf einem ehemaligen Übungsplatz der Armee errichtet worden, der Boden dürfte mit Schadstoffen und Munition belastet sein. Noch während der Aufbauarbeiten konnte man dort Soldaten beobachten, die mit Metalldetektoren die Umgebung der Zelte absuchten. Der Ministeriumssprecher aber erklärt: "Alles sicher."
Das größte Problem für Geflüchtete wie Muhammad ist die Ungewissheit, ob sie das Lager später wieder verlassen dürfen. Tatsächlich heißt es, es solle zunächst unter Quarantäne gestellt werden. Mehr als 200 Corona-Fälle wurden in den letzten Tagen registriert. Nach zwei Wochen sollen die Bewohner tagsüber das Camp verlassen dürfen. Aber sicher ist das nicht und die Ungewissheit quält auch Muhammad.
"Wir sind hergekommen um Schutz zu suchen. Wir sind keine Gefangenen. Ich bin seit einem Jahr in Lesbos, in Moria. Das könnte ich nicht länger ertragen", sagt er.
Verlorene Lebenszeit
Muhammad steht langsam auf, er will die Straße runter zur Familie seiner Tante und sich mit ihnen zusammen im neuen Camp registrieren. Er wirkt müde und abgekämpft. Die Straße um ihn herum ist fast menschenleer. Neben den griechischen Müllmännern kommen nur ab und zu vereinzelt Personen vorbei. Eine Familie aus Afghanistan, beladen mit Plastiktüten, ein junger Mann aus dem Kongo, der ein altes, dreckiges Zelt trägt. Muhammad schlägt die gleiche Richtung wie sie ein und läuft langsam in Richtung des neuen Lagers.
Er raucht eine Zigarette. "Das habe ich früher nie gemacht, ich war sportlich, habe Menschen gemieden, die rauchen. Jetzt beruhigt es mich", erzählt er. Er habe sich in der Zeit hier sehr verändert, sagt er. Psychisch sei der Teenager am Ende. "Wir verlieren hier unsere Lebenszeit. Das fühlt sich nicht an, als ob wir lebendig sind", sagt er, während er einen Mannschaftsbus der Polizei passiert.
[embed:render:embedded:node:41567]In Afghanistan ging es ihm wirtschaftlich gut, berichtet er. Sein Vater ist Abgeordneter des Landesrats in der Provinz Wardak und hat ein Wasserversorgungsunternehmen. Die Familie hatte Geld, aber keine Sicherheit. Einmal sei er auf dem Nachhauseweg von der Schule von einem Auto angehalten worden. Die Männer sagten, sie seien Freunde seines Vaters und forderten ihn auf einzusteigen. Als er sich weigerte, versuchten sie ihn in das Auto zu zerren. Er konnte sich losreißen und flüchten. "Wenn du in die Schule gehst, weißt du nicht, ob du lebendig wieder nach Hause kommst."
Lieber abgeschoben als gefangen
Mit seiner Tante entschloss er sich nach Europa zu flüchten. Seine Hoffnung hier ein neues Leben anzufangen, vielleicht in Deutschland, hat er aufgegeben. Er wollte die Sprache lernen, Medizin studieren und Fußball spielen, seine große Leidenschaft.
Mittlerweile ist Muhammad am neuen Camp angekommen. Neben der Straße sitzen größtenteils Gruppen von Männern und warten im Schatten von niedrigen Büschen. In der Schlange vor dem Eingang sind zunächst nur die Familien zugelassen. Sie stehen dicht an dicht. Die Polizei, mit Schutzanzügen und Filtermasken ausgestattet, hält Abstand. Jeder einzelne wird registriert und auf das Coronavirus getestet.
Muhammad sprach vorhin noch davon, dass er sich lieber nach Afghanistan abschieben lassen würde, um dort zu sterben als in dieses Gefängnis zu gehen. Aber jetzt bleibt ihm keine Wahl. Er sieht seine Tante, die vorne in der Schlange steht. Langsam, mit gesenktem Kopf schiebt sich Muhammad an den anderen Familien vorbei und verschwindet in der Menge.
Max Zander
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