Im Auge des Feindes
Es gibt einen guten Grund dafür, weshalb in Bartella, der ersten zurückeroberten und mehrheitlich von Christen bewohnten Stadt vor Mossul, die Straßenzüge leergefegt sind sich kein Einwohner blicken lässt. Diese waren nämlich schon vor zwei Jahren geflohen, als die Dschihadisten des IS den Ort eingenommen hatten. Zurück kann im Moment noch keiner von ihnen, da überall noch zurückgelassene Sprengfallen des IS lauern.
Unsere Begleiter von der Elite-Anti-Terroreinheit der irakischen Armee, die die Stadt am Tag zuvor gestürmt und erobert haben, weisen immer wieder darauf hin, sich nur auf den vorgegebenen Pfaden zu bewegen, die die Armee bereits geräumt und gesichert hat. Auf keinen Fall solle man in eines der Häuser gehen, warnen sie.
Immobilienunternehmen "Islamischer Staat"
Auf manchen Gebäuden kann man einen mit Hilfe einer Schablone gepinselten Schriftzug "Immobilie des Islamischen Staates" erkennen. Offenbar herrscht auch im Kalifat bürokratische Ordnung. Das Innere des lokalen Internet-Cafés ist vollkommen demoliert –so wie die meisten Läden im Dorf. "Vom Islamischen Staat beschlagnahmt" steht dort an der Tür. Viele Läden in Bartella sind ausgeräumt. Nur beim Schneider hängt noch ein völlig eingestaubtes, eher beige als weiß wirkendes Hochzeitskleid. Offenbar hatte die Braut nicht mehr genügend Zeit, es noch rechtzeitig abzuholen.
Die meisten Häuser in Bartella sind trotz des Angriffs noch intakt geblieben. Nur am Stadtrand gibt es deutliche Zeichen der Kämpfe. Einige Gebäude, darunter ein Lagerhaus und eine Ladenzeile, waren zuvor offensichtlich von der Anti-IS-Koalition aus der Luft bombardiert worden.
Die Eroberung durch Bodentruppen ging offenbar recht schnell vonstatten, berichtet der irakische Soldat Rassul Ali, der aus seinem gepanzerten Militärjeep steigt und an einige Schriftzüge an einer Häuserwand deutet: "Das Mossul-Bataillon war hier", steht dort. Und dann hat Ali noch das Datum daneben geschrieben, an dem er in die Stadt eingerückt ist: "21/10/2016". Es scheint ganz so, als ob sich alle Eroberer des Ortes zunächst einmal an den Häuserwänden verewigen müssten.
Es gab wenig Widerstand, eher hinterhältige Fallen, beschreibt der Soldat seinen Einzug in die Stadt. "Wir wurden mit vielen Autos konfrontiert, die mit Sprengstoff vollbeladen waren. Insgesamt mussten wir 21 Fahrzeuge entschärfen. Auch jede Menge Sprengfallen haben wir gefunden. Einige IS-Leute hatten sich hier verschanzt. Wir haben sie alle getötet", schildert er.
Der Altar gleicht einem Schlachtfeld
Symbolisch für die Herrschaft des IS über die vornehmlich christliche Stadt ist die völlig verwüstete Kirche. Von Außen steht das Gebäude noch, das offensichtlich von den IS-Kämpfern genutzt wurde, denn an manchen Wänden haben sie auch dort die übliche schwarz-weiße IS-Singnatur hinterlassen. Der Altar gleicht einem Schlachtfeld. Die elektronische Kirchenorgel wurde völlig zertrümmert, überall liegen Scherben rund um die Kanzel. Und alles, was nicht niet- und nagelfest ist, wurde mitgenommen. Wie zum Trotz läuten die Kirchenglocken am Tag Eins nach der Befreiung von der IS-Terrormiliz.
Rund eine Autostunde von Bartella entfernt liegt "Umm al-Nour" – die "Mutter des Lichts" – eine Kirche in der kurdischen Provinzhauptstadt Erbil. Dort zelebriert die Flüchtlingsgemeinde aus Bartella ihren Sonntagsgottesdienst. Majida Thoma ist eine der Gemeindemitglieder, die heute in der Kirche Gott für die Befreiung ihres Ortes preist. "Ich konnte mein Glück gar nicht fassen, als ich die Nachricht von der Befreiung unserer Stadt hörte, an die ich immer geglaubt habe“, erzählt sie nach der Messe. "Ich habe sogar schon im Fernsehen unser Haus gesehen, das nicht beschädigt wurde", erzählt sie. "Es ist das grüne, ganz am Anfang der Straße", berichtet sie überschwänglich.
Auch Vater Saady Jakoub, der Priester der Bartella-Exil-Gemeinde ist sichtlich glücklich, auch wenn das Innere der Kirche völlig zerstört ist. Auf die Frage, nach den vielen seiner einstigen Gemeindemitglieder, die nach Europa geflüchtet und sich dort einen neues Leben aufgebaut haben, antwortetet der Priester, dass er optimistisch sei, dass viele von ihnen wieder zurückkommen werden. "In unserer Stadt liegen schließlich unsere Wurzeln, dort sind unsere Vorfahren begraben", sagt er.
Funktionierende Kooperation mit der irakischen Armee
Szenenwechsel an einem anderen Ort an der Front, diesmal 18 Kilometer nördlich von Mossul, in der Nähe des Dorfes Nawara – dort, wo die kurdischen Peschmerga gegen den IS kämpfen und wo uns Halgord Hikmet, ein Sprecher der Streitkräfte der Autonomen Region Kurdistan erwartet. "Wir greifen derzeit an drei Achsen an, wobei wir wegen der Sprengfallen und Scharfschützen nur langsam vorankommen und sehr vorsichtig vorgehen müssen", beschreibt er die Lage.
Wichtig beim Kampf gegen den IS sei auch die amerikanische Luftunterstützung. Außerdem lobt der Peschmerga-Sprecher die sehr gute Zusammenarbeit mit der irakischen Armee, die weiter östlich und südlich operiert. "Noch nie in der irakischen Geschichte, haben sich Kurden und Araber so gut koordiniert wie jetzt gegen den IS", meint er. Es ist ganz so, als hoffe der auf eine Geburtsstunde des neuen Irak – allen Unkenrufen zum Trotz, die immer wieder davor warnen, dass nach der Eroberung Mossuls sofort wieder Differenzen zwischen Kurden und Arabern sowie zwischen Sunniten und Schiiten ausbrechen werden.
Immer wieder sind Raketen-Einschläge zu sehen und zu hören, wenn die Kampfjets der Anti-IS-Koalition Orte bombardieren, in denen sie Stellungen der Dschihadisten vermuten. Die Dörfer direkt vor uns gelten eigentlich als sicher, aber hier sollte man nur mit einem Militärfahrzeug weiterfahren, das mit einem Chip ausgerüstet ist, den die Kampfjets als "verbündetes Fahrzeug" erkennen. Doch selbst das bietet nicht immer Schutz.
Die Gefahr lauert überall
In dem Dorf direkt vor uns geht plötzlich eine Sprengfalle hoch, die der IS hinterlassen hat – nicht weit von dem Haus entfernt, auf dem die Peschmerga ihre kurdische Fahne gehisst haben. Eigentlich war am Tag zuvor geplant gewesen, dass wir die kurdischen Kämpfer zu einem anderen eroberten Dorf begleiten, das nur zwei Kilometer entfernt liegt. Doch vor ein paar Stunden hat sich dort ein in einem Tunnel verschanzter IS-Kämpfer vor einer Gruppe von Peschmergas in die Luft gejagt. Sechs von ihnen wurden getötet, fünf davon waren Familienmitglieder. Die Gefahr lauert überall. Das spürt man hier auf Schritt und Tritt.
Ein paar Kilometer die Straße Richtung Norden ist es friedlicher. Dort befindet sich das Aufnahme- und Registrierungslager Nargazliya. Es steht offen für jene meist sunnitischen Zivilisten, die in den Dörfern ausgeharrt hatten und sich nun aus den Fängen des IS befreien konnten. An diesem Tag sind die ersten 80 Flüchtlinge aus dem nahegelegenen Dorf Dayraga angekommen.
Für sie beginnt das neue Leben mit einer ärztlichen Untersuchung. Müde und erschöpft sitzen die Frauen und Kinder auf dem Boden in einem der großen Zelte, wo sie geduldig auf das weitere Vorgehen warten. Die Männer wurden von ihren Familien getrennt und werden vom Geheimdienst der Peschmerga befragt, der uns verbietet, zu diesem Zeitpunkt mit den Flüchtlingen Kontakt aufzunehmen. Man wolle sichergehen, dass sich auf diesem Wege keine IS-Kämpfer einschleichen, begründetedas Militär das Abschirmmanöver der sunnitischen Flüchtlinge. Mit einem der Männer ergibt sich dennoch ein kurzes Gespräch.
"Wir haben vor uns hinvegetiert"
"Die IS-Kämpfer haben sich mitten zwischen unsere Häuser gestellt und auf die Peschmerga geschossen", erzählt Salah Ibrahim, der nur mit seiner Familie und dem, was er am eigenen Körper trägt, hier angekommen ist. "Die Peschmerga haben unser Dorf daraufhin mit Granaten angegriffen. Das hielt von gestern früh bis heute morgen an. Dann schwächten die Gefechte ab, weil die IS-Kämpfer nacheinander gefallen sind. Schließlich sind wir mit weißen Fahnen aus den Häusern gekommen, woraufhin uns die Peschmerga empfangen haben."
Das Leben im sogenannten "Islamischen Staat" sei furchtbar gewesen, berichtet Salah Ibrahim. Die Frauen mussten sich vollverschleiern. Die Schule wurde geschlossen. "Wir haben vor uns hinvegetiert. Wir durften nichts besitzen – weder Handy noch Fernseher. Wir durften uns nicht mal rasieren. Und man wurde gezwungen, regelmäßig in die Moschee zu gehen. Wenn man nicht zum Gebet erschien, musste man umgerechnet 40 Euro zahlen oder man wurde ausgepeitscht", sagt er. Dann wird das Gespräch unterbrochen. Ein Peschmerga-Offizier schickt die Journalisten weg. Die Neuankömmlinge sollen noch heute in ein anderes Lager gebracht werden, sagt er noch.
Für den Sunniten Salah und seine Familie beginnt der erste Tag ohne IS-Herrschaft – ein entbehrungsreiches Leben, in irgendeinem Zeltlager, das die kurdische Regierung und das UN-Flüchtlingswerk in den letzten Wochen aufgebaut haben. Wie lange die Mossul-Offensive andauern wird und wann sie in ihre Dörfer zurückkehren können, kann derzeit niemand genau sagen. Nach dem Leben in der Hölle des IS-Kalifats beginnt für sie nun ein Leben in quälender Ungewissheit.
Karim El- Gawhary
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