Systematisch diskriminiert
Seit Jahrzehnten kursiert im Westen der Satz, Israel sei "die einzige Demokratie im Nahen Osten". Seit einiger Zeit aber wird die israelische Politik – vor allem in Europa – zunehmend kritisiert, wobei es insbesondere um die Militäraktionen im Westjordanland und im Gazastreifen geht, also in den seit 1967 von Israel besetzten Gebieten.
Doch egal, ob es um die "unangemessenen" Militärschläge geht oder um die Kritik an der israelischen Siedlerbewegung, bezieht sich die Kritik an der israelischen Politik doch hauptsächlich auf das Territorium, in dem irgendwann einmal ein palästinensischer Staat entstehen soll.
Doch hierbei werden die 20 Prozent israelischer Bürger außer Acht gelassen, die palästinensischer Herkunft sind. Erst wenn man diesen blinden Fleck der Tagespolitik versucht zu erhellen und sich auch den Problemen widmet, mit denen die Palästinenser seit 1948 zu kämpfen haben, lässt sich zum Kern des Nahostkonflikts vordringen.
Konfiszierung und Vertreibung
Durch die israelische Siedlungspolitik wurden zahlreiche Palästinenser vertrieben und zu Flüchtlingen. Jene, die blieben, bilden heute eine 20-Prozent-Minderheit der israelischen Bevölkerung (wobei ihre Herkunft durch den Begriff "israelische Araber" eher verdunkelt denn erklärt wird).
Die israelische Regierung rühmt sich der angeblich so demokratischen und multikulturellen Praxis, die im Land herrsche. Tatsächlich aber erfahren die Palästinenser in Israel eine systematische Diskriminierung, was die Frage aufwirft, inwieweit die Formel "jüdisch und demokratisch" wirklich noch zutrifft.
Rund 20 Prozent des israelischen Territoriums vor 1967 fielen dem neuen Staat durch Enteignung der vorherigen palästinensischen Besitzer im Rahmen des "Absentee Property Law" (Gesetz zum Eigentum Abwesender) zu. Zu den Flüchtlingen gehört grob geschätzt aber auch jeder Vierte der heutigen palästinensischen Bürger, deren Land ebenfalls konfisziert wurde, da sie als "anwesende Abwesende" eingestuft wurden.
Zwangsräumungen nach Plan
Diese Politik bedeutete, dass bis zur Mitte der 1970er Jahre eine durchschnittliche palästinensische Gemeinde zwischen 65 und 75 Prozent ihres Landes verloren hatte. Seit 1948 wurden mehr als 700 jüdische Gemeinden gegründet (ohne die Siedlungen im Westjordanland und im Gazastreifen) – doch nur insgesamt sieben für palästinensische Bürger (und diese im Zuge der Umsiedlungen der Beduinenbevölkerung in der Negev-Wüste).
Während die israelische Regierung davon spricht, dass die Negev-Wüste "entwickelt" werden soll, leben Tausende von Beduinen in "nicht-anerkannten Dörfern". Sie leiden unter der Zerstörung ihrer Häuser und dem Mangel an grundlegender Infrastruktur. Eine ernsthafte neue Bedrohung stellt der "Prawer-Plan" dar, der Zwangsräumungen vorsieht, bei denen bis zu 70.000 arabische Bürger umgesiedelt würden und die Zerstörung ihrer Dörfer zu gewärtigen hätten.
Die letzte Verfügungsgewalt über den Grundbesitz, also sowohl was den Landbesitz, als auch die Regelungen landwirtschaftlicher Ansiedlungen anbetrifft, wird Körperschaften zugestanden, die den verfassungsgemäßen Auftrag haben, Juden zu privilegieren.
Gleichzeitig wird das Recht auf Wohnsitz in 70 Prozent der israelischen Kommunen von Zulassungskomitees kontrolliert, die befugt sind, diejenigen herauszufiltern, die als "ungeeignet" für die "soziale Zusammensetzung" der Gemeinde angesehen werden. Die kleinen Gemeinden, vor allem in der Negev-Wüste und in Galiläa, spielen eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung einer räumlichen Hegemonie.
Politik der Segregation
Auch die gesellschaftliche Diskriminierung erfolgt systematisch: So gibt das Bildungsministerium fünfmal mehr Geld für jüdische Studenten aus als für palästinensische. Staatsbeamte, darunter auch die Abgeordneten der Knesset und die Kabinettsmitglieder, äußern sich wiederholt und öffentlich rassistisch gegenüber den Palästinensern, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Shin Bet, der Inlandsgeheimdienst/ die Geheimpolizei, kämpft offen gegen friedliche und legale Anstrengungen palästinensischer Bürger, eine rein jüdische Grundausrichtung des Staates in Frage zu stellen.
Die unbequeme Wahrheit ist, dass Israel zwar demokratisch für die jüdische Bevölkerung ist, aber undemokratisch gegenüber den Palästinensern. Das Einwanderungsrecht zeugt hiervon ebenso wie das Grundbesitzrecht, die Entwicklungsbudgets und vieles mehr. Der Hinweis auf eine Handvoll Araber in der Knesset, in einigen Fußballteams und in den Medien ist nichts als Augenwischerei.
Gesetze und politische Strategien, die nur einer von zwei Bevölkerungsgruppen zugute kommen, und die die faktische Trennung beider Gruppen fördern, erfüllen die Definition der Apartheid, wie sie das internationale Recht formuliert. Erst in diesem Jahr rügte der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendiskriminierung (CERD) Israel und verurteilte die "Segregation" sowohl in dem Territorium vor 1967, als auch im besetzten Westjordanland.
Keine Argumente, die von den Unterstützern Israels vorgebracht werden, können von der täglichen Realität der Besatzung und des Kolonialismus ablenken. Vom Jordan bis zum Mittelmeer ist de facto ein Staat entstanden, der auf der Basis von Ethnizität Rechte und Privilegien zugesteht oder verweigert.
Je eher daher dieses demokratische Manko kritisch hinterfragt wird, desto eher ist der Weg frei für eine Zukunft, in der auch die Rechte der Palästinenser gebührend berücksichtigt werden und beide Völker ein Land gleichberechtigt teilen können.
Ben White
© Qantara.de 2012
Ben White ist Journalist, Autor und Aktivist, spezialisiert auf Palästina und Israel. Er bereist den Nahen Osten seit 2003. Seine Artikel wurden in einer Vielzahl von Publikationen veröffentlicht, darunter dem Guardian, Al Jazeera, New Statesman, Salon, Christian Science Monitor und vielen anderen. Sein letztes Buch "Palestinians in Israel: Segregation, Discrimination and Democracy" wurde im Januar 2012 im Verlag Pluto Press veröffentlicht und enthält ein Vorwort des Knesset-Abgeordneten Haneen Zoabi.
Übersetzt aus dem Englischen von Daniel Kiecol
Redaktion: Arian Fariborz & Lewis Gropp/Qantara.de