"Die Religion ist Gottes, die Demokratie aber gehört allen!"
Ohne Übertreibung lässt sich sagen, dass die jüngsten politischen Entwicklungen in Tunesien zahlreiche symbolische Dimensionen und Paradoxe aufgezeigt haben, über die man nicht einfach hinweggehen kann, um ihre Bedeutung für die gesamte Region zu ermessen. Es sind sechs grundlegende Lektionen, die sich aus dem tunesischen Beispiel ableiten lassen.
1. "Despotie versus Chaos" als Vorwand zur Legitimation autoritärer Herrschaft
Die Behauptung, autoritäre Herrschaft sei notwendig, da sonst Chaos herrsche, wurde bereits vor der ersten Welle des Wandels in der arabischen Welt häufig von den autokratischen Regenten als Vorwand benutzt, um die Freiheitsbestrebungen in ihren Staaten im Keim zu ersticken.
Nach dem Ausbruch der Revolutionen sollte der politische Wandel schließlich diskreditiert werden, um die arabischen Massen von dieser Idee abzubringen. So wurde der eingeleitete politische Wandel von den Vertretern der alten Regime als Synonym für Chaos und Instabilität dargestellt.
Diese Ansicht vertrat Ägyptens Ex-Präsident Hosni Mubarak während der Revolution vom 25. Januar 2011 ebenso wie der frühere libysche Diktator Muammar al-Gaddafi – und genau dies tut auch heute noch Baschar al-Assad in Syrien. Auch das gegenwärtige Regime Abdel Fattah al-Sisis in Ägypten propagiert diese "Lehre" weiter, ja treibt diese gar auf die Spitze.
2. Postrevolutionäres Chaos als Ergebnis jahrzehntelanger Unterdrückung
Tatsächlich herrscht in der arabischen Welt nach den Umbrüchen vielerorts Chaos. Doch dieses Chaos resultierte aus der jahrzehntelangten Erstarrung, Verknöcherung und Unterdrückung – und nicht aus dem Wunsch nach Veränderung. Dieses Chaos lässt sich mit einer gewaltigen Explosion vergleichen, die nach Jahrzehnten der Repression und des stillschweigenden Hinnehmens der Verletzung grundlegender Menschenrechte über die Region hinwegfegte. Der unterdrückte Zorn über die strikte Ablehnung jeglicher Forderungen nach politischem Wandel musste sich schließlich entladen.
Es ist eines der Paradoxe der ersten Welle des Arabischen Frühlings, dass sie die Theorie von der „Stabilität von oben“ eindeutig widerlegt hat, die sich die alten Regime in der arabischen Welt während der gesamten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf die Fahnen geschrieben hatten und ihren Gesellschaften aufzwangen. Viele dieser Regime sind inzwischen unter den Schreien der Jugend auf den Straßen und Plätzen von Tunesien bis Sanaa zusammengebrochen.
Die tunesische Erfahrung zeigt in diesem Zusammenhang einen dritten Weg jenseits von Chaos und Despotismus auf, nämlich den der Demokratie. Viele Nationen und Gesellschaften haben diesen Weg bereits erfolgreich bis hin zu echter Stabilität beschritten, indem sie die Kosten für den Wandel deutlich gesenkt, Respekt für den Willen der Bürgerinnen und Bürger gezeigt und an der Umsetzung ihrer Interessen gearbeitet haben.
Die Tunesier haben hier zwar sicherlich nicht das Rad neu erfunden, aber doch diesen Weg für sich entdeckt und bislang konsequent daran festgehalten, so dass es ihnen in ihrem Land bisher relativ gut gelungen ist, die Phase der politischen Verwerfungen, die mit jedem demokratischen Wandel einhergeht, sicher zu umschiffen.
3. Die Mär vom "islamistischen Gespenst"
Das Beispiel Tunesien widerlegt auch die These vom alles verschlingenden "islamistischen Drachen", der bis heute von Despoten und säkularen Kräften beschworen wird, um den demokratischen Gedanken im In- und Ausland zu diskreditieren. Bei den vergangenen Parlamentswahlen in Tunesien belegte die islamistische "Ennahda"-Partei lediglich den zweiten Platz hinter der säkulare Partei "Nidaa Tounes" – und dies, obwohl sie bei den vorangegangenen Wahlen Ende 2011 noch eine Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen konnte.
أZwar wird die Partei auch weiterhin im neuen politischen System Tunesiens eine bedeutende Rolle spielen, doch hat ihre verlorene Vormachtstellung eine recht schlichte Tatsache offenbart: Nämlich, dass es sich auch bei den moderaten Islamisten lediglich um eine Gruppe von Menschen handelt, für die die Gesetze von Sieg und Niederlage, Aufstieg und Niedergang ebenso gelten wie für alle anderen Parteien auch – fernab jeglicher Versuche der Glorifizierung oder Dämonisierung.
Da die "Ennahda"-Führung von den Fehlern ihrer Gesinnungsgenossen in Ägypten offenbar gelernt hat, indem sie sich dem politischen Konsens nicht verweigerte, zu wirklichen Konzessionen bereit war und sich jeglichen Hegemonialstrebens enthielt, besteht die Hoffnung, dass auch die säkularen Kräfte in Tunesien hiervon lernen können. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sie in die gleiche Falle tappen, die bei Ägyptens Muslimbrüdern das Scheitern der demokratischen Erfahrung eingeleitet hat: die Ausgrenzung und Verteufelung aller Oppositionellen in übelster faschistischer Manier.
4. Konfliktlösung durch Wahlen – nicht durch Gewalt
Die tunesische Erfahrung hat gezeigt, dass Wahlen der kürzeste, beste und aussichtsreichste Weg zum Wandel in der arabischen Welt sind. Dies ist zunächst einmal eine wichtige Lektion, von der die Befürworter autoritärer und religiös-fundamentalistischer Regierungsführung gewiss noch viel lernen müssen.
In Tunesien gelang diese demokratische Wende vor allem deshalb, weil die sich in der Hand des Staates befindlichen Waffen neutralisiert und aus dem politisch-zivilen Konflikt herausgehalten werden konnten. Weder wurde ein Putsch unterstützt, noch wurde das Militär aufgefordert, die Macht zu übernehmen. In Tunesien wurde ein historischer Präzedenzfall in der arabischen Welt geschaffen, da es den Bürgern gelang, ihre politischen Konflikte auch ohne Gewehr und Uniform zu lösen.
Außerdem richteten die Tunesier eine unmissverständliche Botschaft an all jene Kräfte, die bis heute versuchen, die politischen Konflikte in ihren Ländern religiös und ideologisch aufzuladen. Die Botschaft lautete: "Die Religion ist Gottes, die Demokratie aber gehört allen". Und durch demokratische Wahlen kann gelingen, was Waffen nicht schaffen. Mit diesen Argumenten entzogen die Tunesier den Extremisten den Boden, dass Wahlen als Mechanismus friedlicher Konfliktbearbeitung angeblich nichts taugen.
Von dieser Lektion haben die anderen arabischen Gesellschaften jedoch bislang nichts gelernt, da sie es nicht geschafft haben, dem Teufelskreis aus Chaos und Gewalt zu entkommen, der die gesamte Region seit dem Verstummen der Rufe nach Demokratie und Freiheit sowie der Ernüchterung - insbesondere der Jugend - befallen hat.
5. Die "One Man, One Vote, One Time"-Doktrin als Trugbild
Die wohl wichtigste Lektion aber ist die Widerlegung der sogenannten "One Man, One Vote, One Time"-Doktrin, die auf den Ausspruch des ehemaligen US-Botschafters in Israel und Syrien, Edward Djerejian, Anfang der 1990er Jahre zurückgeht, nachdem die Islamische Heilsfront (FIS) die Parlamentswahlen in Algerien 1991 gewann. Die Doktrin geht von der Unvereinbarkeit von politischem Islam und Demokratie aus. Die Islamisten würden ihre Wahlsiege nur dazu missbrauchen, um daraufhin ihre religiöse und undemokratische Herrschaft in Staat und Gesellschaft zu zementieren.
Der Umgang der islamistischen "Ennahda" mit Wahlen zeichnet ein deutlich anderes Bild, insbesondere hat sie nach ihrer jüngsten Wahlniederlage den friedlichen Machtwechsel in Tunesien vorbehaltlos akzeptiert, ihre Führungsriege gratulierte den politischen Widersachern der "Nidaa-Tounes" zu ihrem Sieg. Noch wichtiger ist jedoch, dass sich die "Ennahda" darum bemühte, engstirniges parteipolitisches Denken den Interessen der Nation und der Bevölkerung unterzuordnen – ein wahrer Quantensprung im politischen Diskurs und Handeln der Islamisten!
Es scheint nun wohl zum ersten Mal in der arabischen Welt Islamisten und Demokraten zu geben. Und es weckt Hoffnung, dass eine neue islamistische Strömung entstehen könnte, die sich ihren Weg bahnt zwischen erstarrter Orthodoxie einerseits und extremistischer Ausrichtung andererseits. Eine Strömung, die bereit ist, fortschrittliche Gedanken und Impulse aufzunehmen, die auch die jüngeren Anhänger dieser Bewegung erreicht und ihnen die Werte von Freiheit, Demokratie und gesellschaftlicher Verantwortung vermittelt.
6. Demokratischer Wandel als unumkehrbarer Prozess
Und schließlich hat die tunesische Erfahrung auch gezeigt, dass der demokratische Wandel in der arabischen Welt nicht mehr aufzuhalten ist, auch wenn er in vielen Umbruchstaaten temporär ins Stocken geraten ist. Das Beispiel Tunesien macht deutlich, dass es den politischen Verlierern, nämlich den Anhängern der alten despotischen Regime, nicht gelingen wird, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, selbst wenn diese Kräfte bisweilen auch politische Erfolge feiern.
Das Wichtigste ist jedoch, dass die zahllosen Opfer der arabischen Jugend für eine bessere Zukunft der kommenden Generationen in ihren Ländern nicht vergebens waren oder sein werden.
Khalil al-Anani
Aus dem Arabischen von Nicola Abbas
© Qantara.de 2014