Barzani laufen die Kurden davon
Als Kurdenpräsident Masud Barzani zur Münchner Sicherheitskonferenz reist, haben 35.000 seiner Landsleute es ihm bereits gleichgetan. Im letzten halben Jahr ist ein regelrechter Exodus aus Kurdistan zu verzeichnen. Allerdings reisen die irakischen Kurden nicht wie ihr Präsident im eigenen Flugzeug "Erster Klasse" nach Deutschland, sondern zu Fuß auf der Balkanroute oder mit dem Schiff über die Ägäis.
Egal, wo man sich in den autonomen Kurdengebieten im Nordirak derzeit aufhält, ob in Erbil, Dohuk oder Suleimanija: die Menschen wollen nichts wie weg. Barzani laufen die Kurden davon. Zynisch bemerkte der kurdische Fernsehsender KNN, dass die Fische im Mittelmeer jetzt Kurdisch lernen würden und zeigte ein angeblich mit Flüchtlingen aus Suleimanija gefülltes Boot, das vor der griechischen Insel Lesbos kenterte. 33 der Insassen sollen ertrunken sein – alle Kurden aus dem Nordirak.
Als Barzani die Fluchtwelle heraufziehen sieht, befiehlt er die längst überfällige Rückeroberung der Stadt Sindschar. Diese war im August 2014 in die Hände des IS – der Terrormiliz "Islamischer Staat" gefallen. Das verheerende Schicksal der mehrheitlich jesidischen Einwohner Sindschars dominierte über Wochen die Schlagzeilen der Weltpresse. Eingeschlossen in den Bergen, ohne Wasser und Nahrung, die Frauen verschleppt von IS-Kämpfern, die Männer ermordet. Vom Genozid an den Jesiden war die Rede. Barzanis Peschmerga musste Kritik einstecken, dass sie die Stadt mit ihren knapp 40.000 Einwohnern nicht schützen konnte.
Dem triumphalen Einzug der ehemaligen kurdischen Freiheitskämpfer Anfang November letzten Jahres gingen heftige Luftangriffe der Amerikaner voraus. Als die 7.500 Peschmerga-Soldaten in Sindschar eintrafen, lag die Stadt bereits in Schutt und Asche. Vom IS war keine Spur mehr zu sehen. Barzani stellte sich noch am selben Tag auf einen Hügel der Sindschar-Berge und erklärte den Sieg der Peschmerga über den IS. Eine Welle des Patriotismus folgte.
So viele kurdische Fahnen gab es lange nicht mehr rund um die Jahrtausende alte Zitadelle der Kurdenmetropole Erbil: Autokorsos, Hupkonzerte und patriotische Gesänge waren überall in den Straßen zu vernehmen. Wie die strahlende Sonne inmitten der kurdischen Flaggen, erstrahlten auch die Gesichter der Menschen, die sich auf dem Marktplatz der 1,2 Millionen-Stadt versammelten und „ihren“ Sieg über den IS feierten. Doch der Freudentaumel währte nicht lange, der patriotische Jubel verstummte bald darauf. Heute packen viele Kurden ihre Sachen und ziehen nach Europa.
Wachsende Unzufriedenheit mit der politischen Führung
Nun unternimmt der Kurdenführer einen weiteren Versuch, um seine Landsleute in Kurdistan zu halten. Ende Januar lässt er seinen Berater Kifah Mahmoud verkünden, noch vor den Präsidentschaftswahlen in den USA ein Referendum über die Unabhängigkeit Kurdistans abhalten zu lassen. Das kurdische Volk solle darüber entscheiden, ob es einen eigenen Staat haben oder im Verbund mit Irak bleiben wolle.
Tatsächlich ist laut Umfragen eine Mehrheit der fünf Millionen Kurden, die in Irak-Kurdistan leben, für einen eigenen Staat und eine Abspaltung von Bagdad. Doch Barzanis Ankündigung eines Referendums ist nicht neu. Schon drei Mal hat er es in Aussicht gestellt, als die Voraussetzungen besser waren als heute. Warum also sollte das Referendum dieses Mal tatsächlich durchgeführt werden, fragen sich viele Kurden der Region. Und was ändert das, wenn der Volkswille bekundet wird? "Die da oben machen ja eh was sie wollen, das Volk ist ihnen egal", so das Credo. Der Missmut gegenüber ihrer politischen Führung nimmt kontinuierlich zu.
So ist der Grund für die massenhafte Abwanderung aus Irak-Kurdistan nicht allein die Bedrohung durch den IS, obwohl sich dieser nur gut 30 Kilometer vor Erbil und 40 Kilometer vor Dohuk festgesetzt hat. Die Stellungen sind seit nunmehr eineinhalb Jahren – seit August 2014 – nahezu unverändert.
Karakosch, die ehemalige, vor allem von Christen bewohnte Stadt auf halbem Weg von Erbil nach Mossul, ist ebenso noch immer in der Hand der Dschihadisten, genau wie Tilkef in der Ninive-Ebene bei Dohuk. Und in Suleimanija ist man rund 200 Kilometer vom Kalifatstaat entfernt. Außer ein paar Flüchtlingslagern, die die Realität widerspiegeln, ist in der zweitgrößten Stadt Irak-Kurdistans nichts von der Angst zu spüren, die anderswo präsent ist. Und doch gehen auch aus Suleimanija die Menschen in Scharen weg.
Keine Arbeit, keine Perspektive, keine Zukunft
Es sind vor allem junge Kurden, die der Region den Rücken kehren. Sie geben an, keine Arbeit, keine Perspektive, keine Zukunft in Kurdistan zu haben. Die Reformhoffnungen hätten sich nicht erfüllt, die Integration der Rückkehrer sei gescheitert.
Hinzu kommt eine tiefe politische und wirtschaftliche Krise. In den vier letzten Monaten des Jahres 2015 sind die Gehälter der Staatsbediensteten nicht bezahlt worden. Für Januar will die kurdische Regionalregierung lediglich 25 Prozent der Löhne auszahlen. Da über 70 Prozent der Beschäftigten im öffentlichen Dienst arbeiten, betrifft dies den Großteil der Bevölkerung. Stromausfälle sind die Regel, nicht die Ausnahme. Viele Infrastrukturprojekte liegen auf Eis, ausländische Ölfirmen haben die Region verlassen, weil sie ebenfalls nicht bezahlt wurden.
Ein tiefgründiger Streit zwischen der Kurdenführung und der Zentralregierung in Bagdad stoppt die Transferzahlungen. Ausgangspunkt war die an Selbstüberschätzung grenzende Entscheidung der kurdischen Regionalregierung vor genau vier Jahren, eine eigene Pipeline in die Türkei zu bauen, um das in Kurdistan geförderte Öl und Gas auf eigene Rechnung auf dem Weltmarkt zu verkaufen – ein erster Schritt hin zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit von Bagdad.
Gleichwohl sollten aber weiterhin 17 Prozent des gesamtirakischen Budgets nach Kurdistan überwiesen werden. Die irakische Regierung knüpft die Zahlungen jedoch an gemeinsame Ölverkäufe, über deren Volumen heute noch Uneinigkeit herrscht. Seit dem Blitzkrieg des IS im Sommer 2014 hat Bagdad die Zahlungen nach Erbil eingestellt.
Rückfall in autoritäre Strukturen
Dass die Region nicht imstande ist, sich allein zu finanzieren, zeigt sich jetzt. 95 Prozent ihres Budgets basiert auf einer einzigen Quelle: Öl. Obwohl Barzani und seine Regionalregierung es vermochten, in den Jahren nach dem Sturz Saddam Husseins Stabilität und Frieden in Irak-Kurdistan zu gewährleisten, ausländische Investitionen anzulocken und einen boomenden Immobiliensektor zu etablieren, wurde die Entwicklung anderer Wirtschaftszweige wie Landwirtschaft, Industrie oder Tourismus gänzlich versäumt.
Das rächt sich jetzt. Hinzu kommt, dass Kurdenchef seinen Stuhl nicht räumen will, wozu er aber laut Verfassung verpflichtet wäre. Als Demonstranten mehr Demokratie und ein parlamentarisches System fordern, kommt es in Suleimanija zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Barzani beschuldigt die Oppositionspartei Goran der Aufwiegelung und wirft kurzerhand deren Mitglieder aus der Regionalregierung. Tags darauf lässt er den Vorsitzenden des Regionalparlaments nicht nach Erbil einreisen und stellt somit die Volksvertretung kalt. Die sich gerne als Vorreiter einer demokratischen Entwicklung gebenden irakischen Kurden fallen in autoritäre Strukturen zurück.
Der vorläufig letzte Versuch, die Kurden an der Flucht aus Kurdistan zu hindern geht auf die Initiative der Türkei zurück, die jüngst eine Visumspflicht für Iraker eingeführt hat. Doch schon bieten Schlepper in Dohuk, Erbil und Suleimanija neue Wege an, um nach Europa zu gelangen. Wenn auch zu einem etwas höheren Preis.
Birgit Svensson
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