Von Indien lernen
Es ist nicht einfach, die Arbeit des 66-jährigen Asghar Ali Engineer auf einen Begriff zu bringen. Engineer schreibt philosophisch, politisch, theologisch. Sein Stil ist einfach, klar, verständlich. Theologischen Fragen begegnet er mit demselben Engagement wie seinen Aufgaben als Sozialaktivist. Das Neu-Denken und Loslösen von orthodoxen Strukturen und vor allem exklusivistischen Deutungen der Religion sind für Engineer Voraussetzung für die Etablierung des kommunalen Friedens.
Früh wurde der in der Nähe von Udaipur/Rajastan geborene Engineer für den interreligiösen Dialog sensibilisiert. Er wuchs in einer Bohra-Gemeinde auf, die der shiitischen Ismailiyya zuzuordnen ist. Zu den Besuchern im Hause seiner Eltern gehörten Angehörige und Priester des Hinduismus. Die religiöse Ausbildung in den klassischen Bereichen der islamischen Theologie erhielt er von seinem Vater, dem Geistlichen Qurban Hussain.
Gründung einer Reformbewegung
Bereits in jungen Jahren beobachtet er, wie der Klerus die einfachen Gläubigen durch ein vielschichtiges Abgabesystem in ein Abhängigkeitsverhältnis bringt. 1972 kommt es zum Eklat: Als Engineer öffentlich Kritik an der absoluten Autorität des religiösen Führers der Gemeinde, Sayedna Burhanuddin, sowie an den vorherrschenden hierarchischen Strukturen übt, wird er zur persona non grata erklärt. Gemeinsam mit anderen Kritikern gründet er die Reformbewegung "Progressive Dawoodi Bohras". Seitdem wurden auf Engineer fünf Anschläge durch Anhänger von Sayedna Burhanuddin verübt, zuletzt im Februar 2000.
Der Koran steht, wie bei so vielen muslimischen Reformdenkern, im Zentrum seines Denkens. Im Unterschied zu seinen "Kollegen" vor allem aus dem arabischsprachigen Raum verfolgt Engineer eine "praktische Koranexegese". Sein Ziel ist, dass das progressive Denken auch von Laien verstanden wird und über den erlesenen Zirkel von Intellektuellen hinauswächst: "Ein lebendiger Glaube ist nicht möglich ohne freien Willen. Deshalb begann ich, den Islam zu interpretieren, um ihn für das zeitgenössische Leben und für Laien bedeutender zu machen", sagt Ali Asghar Engineer anlässlich der Verleihung des Alternativen Friedensnobelpreises und fährt fort: "Ich habe kontinuierlich über den Islam und moderne Herausforderungen geschrieben, um den Islam zu einem lebendigen und bedeutenden Glauben zu machen. Auch hilft er mir sehr im Kampf gegen kommunale Mächte und Sekten. Meine beiden Kämpfe stärken sich gegenseitig."
Kritik an Rechtsgelehrten
So erstaunt es nicht, dass sich Engineer besonders für die Verbesserung der Position (nicht nur) muslimischer Frauen einsetzt. Dabei kritisiert er marginalisierende Strukturen sowohl auf gesellschaftspolitischer Ebene als auch die islamischen Rechtsgelehrten. Sie seien patriarchalen Werten verbunden und nicht dem Prinzip der Gerechtigkeit.
Auch die Vorgehensweise der so genannten Panchayat (Dorfräte, bestehend aus juristischen Laien) in Fällen von sexuellen Übergriffen auf Frauen prangert er an (zuletzt im weltweit bekannt gewordenen Fall der Pakistanerin Mukhtaran Mai, die infolge eines "Urteilsspruch" mehrfach vergewaltigt wurde). Engineer lehnt es ab, diese menschenverachtende Praxis als "islamisch" zu betrachten. Die Behauptung, die Scharia sei göttlich und damit unveränderbar, stehe auf wackligen Füßen. "Das Gesetz der Scharia ist das Ergebnis menschlicher Interpretation", schreibt er. Nur in einer modernen, pluralistischen Demokratie könne das Monopol der orthodoxern Rechtsgelehrten gebrochen werden.
Verarbeitung der Vergangenheit
Auf dem indischen Subkontinent herrscht bekanntlich die größte Demokratie der Welt. Ein progressiver muslimischer Denker wie Engineer kann hier frei arbeiten und publizieren. In anderen Ländern bleibt muslimischen Intellektuellen hierfür oft nur das Exil. Folglich ist für Engineer der Säkularismus ein Garant für den kommunalen Frieden in einer multireligiösen Gesellschaft. Daraus leitet sich ein indisches Nationalbewusstsein ab, welches entgegen ethnisch oder religiös exklusivistisch argumentierende Konzepte steht. Das schafft auch Raum für die Überwindung des Traumas der Teilung von 1947.
Engineer leistet einen wichtigen Beitrag zur Verarbeitung dieser Vergangenheit und der Fokussierung der Minderheiten und ihrer Rolle für die indische Gesellschaft. Seine Kritik richtet sich sowohl gegen gesellschaftspolitische Strukturen und Kräfte, die den Zugang zu Bildung und zur communal harmony behindern, als auch gegen religiöse Orthodoxie. 2004 erhielt er gemeinsam mit dem hinduistischen Sozialreformer Swami Agnivesh den Alternativen Friedensnobelpreis.
Fatma Sagir
© Qantara.de 2006
Asghar Ali Engineer lebt und arbeitet in Mumbai. Er leitet das "Institute Center for Secularism and Society " sowie das "Indian Institute for Islamic Studies".