''Die wahre Revolution wird erst nach Assad kommen''
Am 15. November 2011, wenige Stunden bevor die Arabische Liga die Mitgliedschaft Syriens aussetzte, verkündete die Führung in Damaskus in einer vermeintlichen Zurschaustellung ihres Entgegenkommens die Freilassung von 1.180 Gefangenen. Einer von ihnen war Kamal al-Labwani: Arzt, politischer Gefangener und einer der bekanntesten Dissidenten Syriens. Zum Zeitpunkt dieser verfrühten Haftentlassung hatte Al-Labwani sechs seiner ursprünglich auf 15 Jahre festgelegten Haftstrafe im Adra-Gefängnis in Damaskus abgesessen.
Es war bereits seine zweite Inhaftierung unter der Regierung Baschar al-Assads: Zehn Jahre zuvor, im Jahr 2001, als der nach dem Tod von Hafiz al-Assad aufblühende "Damaszener Frühling" Hoffnung auf eine positive Wende im repressiv geführten Syrien der Baath-Diktatur bescherte, hatte man ihn schon einmal weggesperrt – als einen von zehn prominenten syrischen Oppositionellen, die sich im Umfeld des unabhängigen Parlamentariers Riad Seif friedlich für mehr Freiheit und Demokratie in Syrien eingesetzt hatten.
Das Trauma von Hama
Kamal al-Labwani hatte nie mit seiner Meinung hinter dem Berg gehalten. Seit dem Jahr 1982, als er während seines Militärdienstes als Arzt in Hama Zeuge des schrecklichen Massakers in der zentralsyrischen Stadt wurde, hatte er es sich zum Ziel gesetzt, gegen das Assad-Regime vorzugehen, das in der Lage war, solche Grausamkeiten an der eigenen Bevölkerung zu verüben.
Drei Jahre verbrachte er in Einzelhaft, weil er am Damaszener Frühling aktiv teilgenommen hatte. Kontakte zur Außenwelt blieben ihm in dieser Zeit verwehrt. Als er im September 2004 das Gefängnis verließ, war von der viel versprechenden Bewegung des Damaszener Frühlings wenig übrig geblieben.
Auch von den Beteuerungen westlicher Staaten, die Demokratisierung in der Region voranzutreiben, waren vor dem Hintergrund des Irak- und Afghanistankonflikts offenbar in Vergessenheit geraten. Die diktatorischen Regimes, das syrische eingeschlossen, konnten hiervon profitierten.
"Die Regierungen Europas denken oft nur an ihre kurzfristigen Vorteile", beklagt sich al-Labwani. "Das ist ein negativer Aspekt der demokratischen Regierungen, dass sie Leute dazu veranlasst, nicht die Zukunft in Betracht zu ziehen. Politik funktioniert nur, wenn sie auf langfristigen und gleichen Grundsätzen und Moralvorstellungen aufbaut."
Al-Labwani beschloss, nach Europa und in die USA zu reisen, um für eine erneute Unterstützung der Demokratiebewegung in seinem Land zu werben: "Ich versuchte die ausländischen Regierungen zu überzeugen, dass Diktaturen Gewalt und Fanatismus schaffen und dass nicht der Islam das eigentliche Problem ist. Ich bat sie, die Ideen des Damaszener Frühlings und der Damaszener Erklärung zu unterstützen, die ja auch ihre eigenen Prinzipien und Ideen beinhalteten: Demokratie, Menschenrechte und Liberalismus."
Zwar stieß der Dissident damit nicht auf taube Ohren, jedoch reichten ihm die Unterstützungsbekundungen, welche aus dem Weißen Haus und dem Europaparlament erhielt, nicht aus.
In Haft
Im November 2005 kehrte er nach Syrien zurück. Er wusste, dass sein Handeln Konsequenzen haben würde, die er jedoch gewillt war, in Kauf zu nehmen, um den Druck auf die ausländischen Regierungen zu erhöhen. Gleich nach seiner Ankunft am Flughafen in Damaskus wurde er festgenommen, später von einem Strafgericht zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Der Vorwurf: "Verbreitung falscher Informationen" und "Kommunikation mit einem ausländischen Staat zur Anstachelung eines Angriffs auf Syrien".
Die BBC berichtete über die Urteilsverkündung in folgendem Wortlaut: "Dr. Al-Labwani wirkte für einige Sekunden schockiert als der Richter das Urteil verlas. Dann lächelte er schwach und hob seine Faust in die Luft – ohne zu sprechen."
Zuvor hatte er sich verteidigt, in einer Rede, in welcher er das Regime erneut anklagte und zu Reformen aufrief – was jedoch den Effekt hatte, dass seine Haftstrafe 2008 um drei Jahre verlängert wurde.
Der Beginn und die ersten Monate der Revolution gingen an ihm fast völlig vorbei: In der Gefängnishaft drangen nur wenige Informationen zu ihm durch. Umso begeisterter war er, als er im November 2011 das Gefängnis vorzeitig verlassen konnte: "Ich sah, dass alle meine Träume im Begriff waren, Wirklichkeit zu werden. Vielleicht sogar noch mehr, als ich gewagt hatte zu hoffen."
Gleichzeitig jedoch merkte er, dass die Entwicklungen eine Veränderung in ihm auslösten: Al-Labwani war immer ein Verfechter des gewaltfreien und friedlichen Protests gewesen, doch die Brutalität mit der das Assad-Regime gegen seine Gegner vorging, veranlasste ihn dazu, seine Meinung zu ändern.
"Was ist das Recht auf Leben wert, wenn es kein Recht auf Selbstverteidigung gibt?", fragt Al-Labwani. "Die Flut an Videos und Bildern im Internet zeigt doch ganz klar die Ausmaße der von der Regierung verübten Verbrechen. Wie könnte die Opposition darauf gelassen reagieren? Die syrischen Männer sehen es als Pflicht an, das Leben ihrer Familien und ihre eigenen Rechte mit Waffengewalt zu verteidigen, vor allem in einer Situation, da das syrische Volk vollkommen auf sich alleine gestellt ist und keine Unterstützung von außen erhält."
Tatenlose Weltgemeinschaft
Die Tatenlosigkeit der Vereinten Nationen im Syrienkonflikt kann er nicht verstehen. Besonders groß ist seine Enttäuschung in Bezug auf den Weltsicherheitsrat: "Es kann nicht sein, dass 120 Staaten beschließen, Syrien zu helfen und ein einziger Staat dies durch sein Veto verhindern kann. Es darf kein Veto gegen Menschenrechte und Menschenleben geben!"
Einen Einsatz von NATO oder UN-Blauhelmen lehnt er dennoch entschieden ab. Zu groß sei die Gefahr eines Besatzungsszenarios, das im Chaos enden könnte. Die Hilfe, die die syrische Opposition von anderen Staaten erhalten sollte – neben schärferen Sanktionen gegen das Assad-Regime und einer stärkeren politischen Unterstützung für die Oppositionellen – sei vor allem materieller Art.
Die syrische Bevölkerung brauche vor allem Lebensmittel, Medizin – und Geld. Geld, um die Gesellschaft von innen zu stärken und wiederaufzubauen. "Es ist vor allem wichtig, die kommunale Verwaltung finanziell zu unterstützen, denn diese wird in der Lage sein, das Chaos nach dem Sturz des Regimes abzuwenden."
Die Angst der konfessionellen Minderheiten vor einem großen interreligiösen Bürgerkrieg nach dem Sturz Assads sieht al-Labwani als nicht gerechtfertigt. Er ist von der religiösen Toleranz seines Volkes überzeugt. "Christen, Juden und Muslime – sowohl schiitischer als auch sunnitischer Glaubensrichtung – leben in Syrien seit 2.000 Jahren friedlich zusammen, niemals kam es zu gewaltsamen Konflikten. Warum sollte sich das nach dem Ende Assads ändern?"
Kamal al-Labwani erhielt nach seiner Freilassung aus dem Gefängnis im November 2011 für sich und seine Familie Asyl in Schweden. Natürlich findet er es beruhigend zu wissen, dass seine Frau und seine drei Kinder seitdem in Sicherheit sind, "aber das ist nur meine kleine Familie. Meine große Familie – das syrische Volk – leidet weiter. Es gibt keine Sicherheit, man weiß nie, wo Bomben fallen werden. Niemand lebt in seinem eigenen Haus, denn viele Häuser sind zerstört oder stehen in Stadtteilen, wo es inzwischen zu gefährlich ist, zu wohnen. Es gibt keine Normalität, keine Jobs, kein soziales Leben. Das Einzige, womit sich die Menschen beschäftigen ist, woher sie die lebensnotwendigen Dinge wie Wasser, Essen oder Elektrizität bekommen und wie sie sich selbst und ihre Familien schützen können."
Dennoch sei es wichtig, dass die Menschen im Land bleiben, betont al-Labwani: "Wenn sie über die Grenzen fliehen, gewinnt das Regime weiter an Boden. Die Menschen halten zusammen, sie fühlen sich nicht als Individuen, sondern als Teil eines großen Ganzen. Und auch ich fühle mich dem zugehörig."
Deshalb will al-Labwani nach Istanbul reisen und von dort aus weiter über die Grenze nach Syrien, zumindest in den nördlichen Teil, der von der Freien Syrischen Armee kontrolliert wird. "Um der syrischen Bevölkerung und auch der Revolution helfen zu können, muss man genau wissen, wie die Situation im Land wirklich ist. Auf Berichte kann man sich nicht verlassen, man muss es mit eigenen Augen sehen."
Eine Opposition ohne Bezug zum Volk
Dies sei auch der Grund, weswegen er den Syrischen Nationalrat verlassen habe. "Die Mitglieder des SNC bilden nicht die wirkliche Opposition, denn sie leben seit langem außerhalb der syrischen Grenzen. Sie haben keine Verbindung zum syrischen Volk und kennen die Situation im Land nicht. Wie könnten sie also diese Revolution anführen? Das einzige was sie wollen ist Geld, Macht und Einfluss."
Er findet es keineswegs bedenklich, dass es derzeit noch keine organisierte Opposition im Land gibt. Das wichtigste Ziel sei zunächst der Kampf gegen das Regime und der Sturz Assads. Deshalb unterstützt al-Labwani auch die Freie Syrische Armee.
"Die ausländischen Mächte fordern eine organisierte Opposition, weil sie wollen, dass wir mit dem Regime verhandeln. Doch das werden wir nicht tun. Wir werden dieses Regime stürzen und vor Gericht bringen. Wir werden den Staatsapparat, den Sicherheitsapparat und die Armee auflösen und dann werden wir den Staat vollkommen neu aufbauen", so al-Labwani.
Wann dies sein werde, weiß er natürlich nicht, glaubt aber, dass das Regime noch im kommenden Jahr stürzen werde. Das Ende Assads bedeute jedoch nicht das Ende der Revolution. Im Gegenteil.
"Die wahre Revolution wird erst nach Assad kommen. Wir müssen die Mentalität in der Gesellschaft ändern, die dieses Regime hervorgebracht hat und für lange Zeit gewähren ließ. Die Menschen dort wissen nicht, was Demokratie oder Menschenrechte bedeuten, weil sie sie nie erfahren haben. Fünf Jahrzehnte lang befand sich die Gesellschaft in einem Käfig, aus dem sie nun ausgebrochen ist. Die Menschen wollen Freiheit und Würde. Der Weg dorthin ist zwar noch nicht klar, die Menschen müssen ihn selbst finden. Es ist ein Prozess, der Zeit kosten wird", meint al-Labwani.
Zehn, fünfzehn Jahre wird es gewiss dauern, bis man im Nahen Osten wieder von Stabilität wird sprechen können. Und dies auch nur unter der Voraussetzung, dass die Werte und Grundsätze, welche die Revolutionen hervorgebracht haben, von der Bevölkerung des Nahen Ostens auch verinnerlicht und umgesetzt werden.
Al-Labwanis Traum für die politische Zukunft der Region ist ein Staatenbund wie die Europäische Union oder die Vereinigen Staaten. "Wir werden den Nahen Osten vollkommen neu aufbauen. Davon hängen Stabilität, Friede und Wohlstand im Nahen Osten ab, nämlich von einer vereinten Wirtschaft und einem gemeinschaftlichen Rechtssystem. Nicht eine einzige Religion oder Ideologie wird daher die Grundlage der Staaten sein, sondern gemeinsame Moralvorstellungen und Grundsätze."
Laura Overmeyer
© Qantara.de 2012
Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de