Zukunft für Migrantinnen
In ihrer Wohnung in Hay Charaf, einem Wohnviertel im Norden von Marrakesch, kümmert sich Oumou Sall um ihr neugeborenes Baby. Die 27-jährige Senegalesin zog 2017 nach Marokko, um ihr Masterstudium in Betriebswirtschaft abzuschließen. Jetzt ist sie im Mutterschaftsurlaub, aber in einer Woche wird sie wieder in einem Callcenter arbeiten - einem von vielen in der Stadt.
Salls Geschichte ähnelt der vieler Frauen, die in immer größeren Zahlen aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara in das nordafrikanische Land einwandern. Nach den jüngsten Zahlen der Vereinten Nationen sind 48,5 Prozent der regulären Migranten in Marokko Frauen.
Es sei ihr nicht schwergefallen, im Job Fuß zu fassen, sagt sie der Deutschen Welle (DW): "Ich habe schnell andere Menschen aus Subsahara-Afrika kennengelernt, mit den Vorgesetzten läuft es gut."
Der Arbeitsmarkt in Marokko ist in Bewegung: Mehr und mehr wandelt sich das Land von der Durchgangsstation für (überwiegend männliche) Arbeitsmigranten auf dem Weg nach Europa zum Zielland - gerade auch für Frauen, die mit besserbezahlten Jobs ihre Familien ernähren wollen.
Callcenter-Boom bringt neue Jobs
Die marokkanische Callcenter-Branche hat in den letzten 15 Jahren einen Boom erlebt, der es vielen französischsprachigen Migranten erleichtert, Arbeit zu finden. Sall, die ursprünglich aus Dakar stammt, berichtet, dass es auch ohne Hochschulabschluss einfach ist, in Callcentern eingestellt zu werden - gute Französischkenntnisse reichen in der Regel aus.
Ihr Festgehalt beträgt 2500 Dirham (rund 230 Euro) im Monat, dazu kommen verschiedene leistungsabhängige Prämien. So kann sie auch regelmäßig Geld an die Verwandtschaft zu Hause schicken.
"Wir arbeiten eigentlich für die Prämien", erklärt Sall. "Wenn wir sie bekommen, können wir Geld an unsere Familien schicken und auch noch Geld zurücklegen."
Etwa 200 Kilometer südwestlich von Marrakesch, im Stadtteil Cité Essalam von Agadir, empfängt die senegalesische Unternehmerin Khady Wade Balde ihre Kunden - meist marokkanische Frauen - elegant in einem ihrer Schönheitssalons, "Khady Hair".
Während sie ihr Team von etwa einem Dutzend Mitarbeitern gut im Auge behält, erzählt sie, wie sie 2008 alleine in Marokko ankam. Die damals 23-Jährige wollte ihre Frisierkenntnisse verbessern. Unter der Anleitung eines marokkanischen Mentors absolvierte sie eine Ausbildung, brachte im Laufe der Jahre viele persönliche Opfer, bis sie schließlich ihren ersten Salon eröffnen konnte.
"Damals gab es für Frauen aus Subsahara-Afrika nur Jobs als Babysitterinnen", sagt sie der DW. "Es gab keine Friseurinnen wie heute. Zuerst dachten sie, ich sei ein Dienstmädchen, aber ich wollte Friseurin werden."
Heute ist Balde eine gefragte Friseurin. Sie sei zufrieden mit dem, was sie hier als Migrantin erreicht habe, sagt sie. Aber sie wisse auch um die enormen Schwierigkeiten, die andere Frauen aus Ländern südlich der Sahara in Marokko hätten: "Ich weiß nicht, wie das Leben der Anderen aussieht, aber ich weiß, dass es für einige von ihnen schwer ist. Es ist nicht für alle so einfach, wie es für mich war."
Viele Migrantinnen fallen durchs Raster
Auf jede Erfolgsgeschichte wie diese kommen viele weitere Schicksale von Frauen, die nicht richtig Fuß fassen. Berichten zufolge leben in Marokko zwischen 70.000 und 200.000 Migranten aus anderen Teilen Afrikas - viele von ihnen ohne Papiere. Frauen ohne Papiere sind besonders anfällig für verschiedene Formen der Ausbeutung, vor allem wenn sie in der Landwirtschaft und als Haushaltshilfen arbeiten.
Angesichts der wachsenden Zahl von Migranten hat die Regierung in Rabat zudem auch ihre Integrationspolitik angepasst. Zwei Kampagnen zur Legalisierung ermöglichten es in den Jahren 2014 und 2017 rund 50.000 Migranten, eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten.
Laut Aida Kheireddine, einer marokkanischen Forscherin und Expertin für Gender und Migration, waren diese Kampagnen zunächst für die Gemeinschaft der Zugezogenen von Vorteil. "Zum ersten Mal in der Geschichte Marokkos gab es eine Massenlegalisierung von Migranten, und Frauen kamen hier besonders zum Zug", sagt sie der DW. Doch seit 2018 sei diese Politik rückläufig.
Trotz aller Bemühungen, die Legalisierung voranzutreiben, gilt in Marokko immer noch ein Gesetz aus dem Jahr 2003, das die Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen sehr schwer macht. Insgesamt fehle in den Vorschriften die Sensibilität für Genderfragen, betonen Nichtregierungsorganisationen. Laut Kheireddine sind Frauen in prekären Beschäftigungsverhältnissen besonders gefährdet, mit Sexismus und Gewalt konfrontiert zu werden.
Geld für die Bildung der Kinder
In Casablanca arbeitet Adji Dieng (Name geändert, Anm. d. Red.) als Reinigungskraft und Kindermädchen für ein marokkanisches Ehepaar. Sie ist 2019 nach Marokko gekommen und stammt ursprünglich aus der Region Casamance im Senegal. Oberste Priorität ist es für sie, die Ausbildung ihrer Kinder im Senegal zu finanzieren.
Ihren ersten Job in Marokko fand sie über eine Agentur, aber nach vier Jahren nahm er ein böses Ende. Über die Einzelheiten möchte sie nicht sprechen. "Ich habe nie um eine Gehaltserhöhung gebeten", sagt sie der DW. "Alles, was ich wollte, war, dass sie mir bei der Eingliederung helfen."
Wie viele ihrer Kolleginnen lebt auch Dieng noch Jahre nach ihrer Ankunft ohne gültige Papiere. Ihre täglichen Schichten dauern zehn bis zwölf Stunden - dafür gibt es im Monat 2500 bis 3000 Dirham. "Es ist immer noch das Beste, was geht. Im Senegal könnte ich niemals so viel Geld verdienen."
Nach einem Jahrzehnt der politischen Debatten trat 2018 ein neues Gesetz über Hausangestellte in Kraft. Damals wurde es als bedeutender Fortschritt gefeiert. Zu den Anforderungen an eine Beschäftigung gehört seither auch ein standardisierter Vertrag. Doch bis 2021 wurden nur 5000 weibliche Hausangestellte unter dem neuen System registriert, bei einer geschätzten Zahl von über einer Million Beschäftigten.
Die 44-jährige Dieng berichtet, dass sie gelegentlich Diskriminierung erfährt - im öffentlichen Nahverkehr oder auch bei der Arbeit. Aber sie hegt den Traum, eines Tages einen Kurs als Konditorin belegen und schließlich in den Senegal zurückkehren zu können.
Nur wenig Unterstützung
"Die Schwierigkeiten, mit denen diese Frauen konfrontiert sind, hängen vor allem damit zusammen, dass sie bei ihrer Ankunft nicht darüber informiert werden, wo sie eine Wohnung finden, welche Schritte sie unternehmen müssen und so weiter", sagt Ndeye Yacine Ndiaye, eine weitere senegalesische Arbeitnehmerin, die seit 15 Jahren im Stadtteil Bourgogne in Casablanca lebt.
Sie kam mit einem Masterabschluss und arbeitet heute als Kommunikationsmanagerin in einer Bank. Gemeinsam mit ihrem Mann beschloss sie, sich in der Diaspora aus Subsahara-Afrika zu engagieren und anderen zu helfen, die das Gleiche durchmachen. Daraufhin gründete sie die Online-Plattform "Attaches Plurielles", deren Ziel es ist, "die andere Seite der subsaharischen Diaspora in Marokko" zu zeigen, indem sie sowohl Migranten als auch Migrationsexperten zu den Themen interviewt, die die Gemeinschaft betreffen.
"Wir versuchen, die mutigen Frauen zu zeigen, die hervorragende Arbeit leisten, die sich nicht einfach mit ihrer verfahrenen Lage zufriedengeben, sondern versuchen, ihr zu entkommen. Diejenigen, die den Willen haben, es zu schaffen."
Marco Simoncelli, Marco Valenza, Davide Lemmi & Oumar Sall
© Deutsche Welle 2023
Diese Reportage wurde vom Pulitzer Center unterstützt. Adaptiert aus dem Englischen von Philipp Sandner