Modi hat gewonnen – aber was ist mit Indien?

Amtsinhaber Narendra Modi hat die vergangenen Wahlen in Indien auf dem Rücken gesellschaftlicher Spaltung gewonnen, meint Aditi Roy Ghatak, freie Journalistin aus Kalkutta.

Von Aditi Roy Ghatak

Kurz nach seinem Wahlsieg versprach Narendra Modi, der Ministerpräsident aller Inder zu sein, nicht nur derjenigen, die für ihn gestimmt haben. Minderheiten brauchten keine Angst zu haben. Internationale Medien lobten diese neue Rhetorik als Zeichen der Mäßigung.

Indiens Minderheiten, darunter fast 200 Millionen Muslime sowie Dalits (sogenannte Unberührbare), Adivasis (indigene Gruppen), Christen und andere, hoffen nun, dass ihre schlimmsten Befürchtungen sich nicht bewahrheiten. Sie sind seit Jahrzehnten Opfer von Hindu-Extremismus, und die Aussagen mancher gewählter Politiker lösen Angst aus. Es gilt die ungeschriebene Regel, dass Minderheiten nichts zu befürchten haben, solange sie die Dominanz der Hindus akzeptieren. Doch diese Regel gilt nicht für alle, wie jüngste Hassverbrechen und der Umgang mit ihnen verdeutlichen.

Laut Verfassung ist Indien ein säkularer Staat, der alle Religionen akzeptiert. Diese Position wird aber zunehmend in Frage gestellt. Abweichler werden schnell als "Volksfeinde" hingestellt. Unter anderem sitzen fünf im vergangenen August festgenommene Menschenrechtler und Wissenschaftler noch immer in Haft, weil sie sich für die Rechte Unterdrückter eingesetzt haben. Unabhängige Journalisten, zivilgesellschaftliche Aktivisten und Intellektuelle werden schikaniert, angegriffen und sogar umgebracht.

Modis Sieg im internationalen Trend

Video-Aufnahmen von Morden an Muslimen sind ein Hit im Internet. Bürgerwehren greifen Menschen an, die Rindfleisch essen oder in eine andere Kaste einheiraten. Sogar wer des Terrorismus verdächtig ist, kann einen politischen Posten bekommen. Pragya Singh Thakur, dem Verschwörung in Zusammenhang mit den Bombenanschlägen auf muslimische Einrichtungen 2006 in der Stadt Maleagaon vorgeworfen wird, sitzt im Parlament. Yogi Adityanath, Regierungschef des bevölkerungsreichsten Bundesstaates Uttar Pradesh, werden Hassreden vorgeworfen.

Demonstranten protestieren gegen die Ermordung von Angehörigen der indischen Minderheiten am 3. Juli 2017 in Mumbai; Foto: Getty Images/AFP/I. Mukherjee
Ein Premier für alle Inder? Kurz nachdem er die letzten Parlamentswahlen in Indien gewonnen hatte, kündigte Narendra Modi an, dass Minderheiten keine Angst haben müssen. Doch die indischen Minderheiten, darunter fast 200 Millionen Muslime, sind in der Lage, zwischen den Zeilen zu lesen: Minderheiten haben nichts zu befürchten, solange sie die hinduistische Dominanz akzeptieren.

Der Mörder von Mahatma Gandhi wird als Held gefeiert, und Vorstellungen, die lose auf alten Mythologien basieren, triumphieren über wissenschaftliche Erkenntnisse. Bigotterie, Fremden- sowie Frauenfeindlichkeit nehmen überhand. Modis Sieg entspricht dem internationalen Trend sich ausbreitenden Rechtspopulismus. Deren Protagonisten provozieren gesellschaftliche Spaltung.

Modis Ansätze klingen zwar in der Theorie gut, haben den Praxistest aber bisher nicht bestanden. Die größte Schande der ersten fünf Jahre seiner Regierung ist der Zusammenbruch der Wirtschaft: Die Wachstumsraten sind im Keller, die Inflation steigt, und das versprochene Jobwunder ist ausgeblieben. Die Arbeitslosigkeit hat zugenommen, und für die ländliche Entwicklung wurde wenig getan.

Vetternwirtschaft in voller Blüte

Außerdem war Modis Steuerreform überbürokratisch, was kleine und mittlere Unternehmen belastet. Seine "Demonetisierung", mit der bestimmte Geldscheine ihre Gültigkeit als Zahlungsmittel verloren, sollte Terrorismus und Korruption die Grundlage entziehen, indem Schwarzgeld aus dem System genommen wird. Doch sie endete im Fiasko: Neue Geldscheine ersetzten umgehend die alten, kleine und informelle Gewerbe sowie Bauern trugen den Schaden davon.

Der umstrittene Deal um französische Rafale-Kampfjets legt nahe, dass die Vetternwirtschaft in Indien in voller Blüte steht. Ob sich die Dinge unter Modi 2.0 ändern werden? Es ist zu hoffen – denn die Massen von Arbeitslosen, die verraten worden sind und Modi trotzdem wieder an die Macht gebracht haben, werden in den kommenden fünf Jahren bestimmt nicht die Füße still halten. Die Menschen können nur hoffen, dass Regieren ab 2019 beinhaltet:

Provokationen und Falschmeldungen in den sozialen Medien Einhalt zu gebieten,

die Entmachtung von Institutionen demokratischer Regierungsführung zu stoppen,

Minderheiten Schutz zu gewähren und

wirtschaftliche, ökologische und Wachstumsthemen in den Mittelpunkt zu stellen.

Modi hat es im Wahlkampf geschafft, von der wirtschaftlichen Misere ab- und die Aufmerksamkeit auf vorgebliche Feinde zu lenken. Die schwache und zersplitterte Opposition setzte auf Inklusion und Gerechtigkeit für alle, konnte damit aber nur in einigen südlichen Bundesstaaten sowie im nördlichen Punjab punkten. Auf die regierende NDA entfielen 45 Prozent der Stimmen. Modi hat gewonnen – aber was ist mit Indien?

 

Aditi Roy Ghatak

© Zeitschrift Entwicklung & Zusammenarbeit 2019