Das Lachen gegen den Tod
In einer unterirdischen Gefängnisanlage in Istanbul sind vier Männer in einer schmalen Zelle eingesperrt, wo sie nichts als Folter und Tod erwartet. Es gibt keine Fenster, die Gefangenen haben jedes Zeitgefühl verloren und leben in ständiger Angst vor den Verhören.
Das Szenario, das Burhan Sönmez in seinem Roman gewählt hat, könnte kaum beklemmender sein. Die Häftlinge, ein Arzt, ein Barbier, ein Student und ein alter Mann, sind keine Verbrecher, sie wurden aus politischen Gründen verhaftet, doch was sie sich zu Schulden kommen ließen, wird weder ihnen noch den Lesern des Romans klar. Sie sind offensichtlich Opfer eines Willkür- und Unrechtsstaates, in dem jeder zum Angeklagten werden kann, der ein verbotenes Flugblatt mit sich trägt oder irgendwo eine kritische Bemerkung gegen die Machthaber verlor.
Sönmez' Roman erschien in der Türkei 2015, noch vor dem Putschversuch mit all seinen politisch-rechtlichen Folgen, die er in den nächsten Jahren mit sich brachte. Dennoch lässt sich der Roman auch als Kommentar auf die aktuelle Situation bei der Verfolgung und Verhaftung Oppositioneller in der Türkei lesen.
Die Kraft der Kreativität
Obwohl ihre Lage hoffnungslos ist und ihnen kein fairer Prozess gestattet wird, entwickeln die vier Männer in dieser unterirdischen Hölle erstaunliche Kreativität, ja geradezu eine narrative Disziplin und beginnen sich Geschichten zu erzählen und Rätselfragen zu stellen.
Die Zelle misst nur zwei auf einen Meter und ist so dunkel wie eine Schiffskajüte. Wechselseitig bestärken sie sich in der Illusion auf dem Walfängerschiff aus "Moby Dick" davon zu treiben.
Die Unterwelt, in der sie sich befinden, wird ihnen zur großen Erzählung, das sehnsüchtig entbehrte Istanbul über ihnen weitet sich in ihrer Vorstellung zum Schatz unerschöpflicher Geschichten. Dabei wird das "Dekameron" des Boccaccio, jene Novellensammlung aus dem 14. Jahrhundert, die zurzeit der Pest in Florenz spielt, als Kronzeuge ihres tapferen Ausharrens ausgerufen.
Die zehn Tage und Nächte, von denen Sönmez' Roman erzählt, sind für die Häftlinge voller Schmerzen und Qualen, doch andererseits begehren sie gegen ihre Peiniger auf und bleiben in den Verhören standhaft durch die Kraft der Phantasie und ihre Fähigkeit der Wirklichkeit ein Stück weit zu entkommen.
Suche nach der Wahrheit
Die Geschichten kreisen um ihre jüngste Vergangenheit, um die Tage und Wochen vor ihrer Verhaftung, die jeder von ihnen anders verlebte. Immer enden sie in der Gefängniszelle – doch von dort aus treibt es sie weiter in der Frage nach allgemeiner Wahrheit, nach dem Wesen der Zeit, nach Gott und Schicksal.
Sönmez, einer der bedeutendsten Schriftsteller der Türkei, dessen Bücher in über 20 Sprachen übersetzt wurden, ist ausgebildeter Jurist und als Menschenrechtler aktiv. Seine Figuren sind in wenigen Strichen kraftvoll gezeichnet, eigenwillige Charaktere, die durch die verschlungenen Geschichten immer einprägsamere Kontur gewinnen und uns ans Herz wachsen.
Selten ist eine Romanfigur beeindruckender gewesen als Kamo, der Barbier auf Abwegen, den seine Frau eines Tages verlassen hat, und dem es im Gefängnis gelingt seine Peiniger zu verunsichern, indem er ihnen bei der Folter ins Gesicht schreit, dass sie "die wahren Menschen" seien. Kamo gewinnt geradezu Dostojewskische Eindringlichkeit, ein düsterer, aber voller Leidenschaft durchs Leben irrender Einzelgänger, der sich nur schwer in die Gemeinschaft der anderen Häftlinge einfügt.
Der Arzt wiederum zeigt in der Not tiefe Menschlichkeit und versorgt so gut es geht die Wunden seiner Leidensgenossen. Auf seiner Terrasse in Istanbul mit Blick auf den Bosporus und die verkehrsreiche Stadt versammeln sich die Häftlinge in ihrer Vorstellung.
"Triumph über die Zeit"
Sie steigern sich so sehr in ihre Phantasien, dass sie die Rakigläser aneinander klirren hören, sich gegenseitig Zigaretten spendieren, während ihnen der Geruch von gebratenem Fisch um die Nase weht. Nichts kann ihnen in diesen Augenblicken ihre Würde rauben, während sie auf der sonnigen Dachterrasse sitzen, bis doch wieder die eiserne Zellentür von ferne in ihr Bewusstsein dringt und die Wächter erneut vor ihnen stehen.
Sönmez schreitet den gesamten Kreis unmenschlicher Leiden und menschlicher Widerstandskräfte anhand seines parabelhaften Romans ab. Er lässt die blutenden Häftlinge unerwartet in Lachsalven ausbrechen, wenn sich ihre Geschichten zu besonders gelungenen Pointen verdichten und es ihnen gelingt, sich von der trostlosen Situation ihres Kerkers durch ihre Vorstellung meilenweit zu entfernen und über ungelöste Fragen zu grübeln.
Jenseits seiner vier Hauptfiguren geht es Sönmez um all jene "Schiffbrüchigen" in der Gesellschaft, die in ihrem normalen Leben "stranden", ihre Familien verlassen, Gedichte schreiben und zu Alkoholikern werden und die sich mit seelischen Verletzungen durch ihre Existenz bewegen, als wären sie Gefangene eines unfreundlichen Schicksals.
Doch manchmal gelangen auch sie an die Oberfläche, erleben den "Triumph über die Zeit" und finden zu Heiterkeit und zum "gelben Lachen", "das den Tod vergessen macht".
Die Übersetzerin Sabine Adatepe hat eine Sprache gefunden, um die parataktische Wucht des oftmals düsteren Textes überzeugend umzusetzen. Ein einzigartig intensiver und schockierender Roman, wie man ihn selten in der heutigen Bücherlandschaft findet. Funkelnd, unerbittlich und in seiner Menschlichkeit lange nachhallend.
Volker Kaminski
© Qantara.de 2017
Burhan Sönmez: "Istanbul Istanbul", aus dem Türkischen von Sabine Adatepe, 288 Seiten, btb Verlag; ISBN: 978-3-442-75700-8