Mit Toleranz gegen religiösen Extremismus
Mild scheint die Sonne in einen Unterrichtsraum der Universität Lyon. In dem Saal ist soeben eine Lesung über die Bibel gehalten worden. Das Thema mag wenig überraschend scheinen in einer Stadt, die einst eine Bastion des französischen Katholizismus war. Doch die Zuhörer, die sich zur Lesung eingefunden haben, sind keine üblichen Theologie-Studenten: Eine junge Frau trägt ein Kopftuch. Der Mann neben ihr trägt den Bart eines gläubigen Muslims. Andere Zuhörer gehören nicht dem Islam an. Sie sind Angestellte der städtischen Verwaltung.
Alle sind eingeschrieben in eine Vorlesungsreihe über Säkularismus und religiöse Freiheit, die zwei Lyoner Universitäten und die Große Moschee der Stadt organisieren. Sie bilden die Vorhut einer nationalen Kampagne zur Förderung religiöser Toleranz. Zugleich wollen sie dazu beitragen einen moderaten "französischen Islam" zu entwickeln.
Wie notwendig ein solches Programm ist, hat sich Anfang Januar dieses Jahres gezeigt: Damals stürmten bewaffnete islamistische Attentäter das Redaktionsgebäude des Satiremagazins "Charlie Hebo" und töteten dort elf Redaktionsmitglieder und anschließend einen Polizisten. Auch die Tatsache, dass hunderte französische Jugendliche in den "Heiligen Krieg" im Nahen Osten ziehen, gibt dem Projekt eine hohe Dringlichkeit.
Präventiv gegen Extremismus
Zudem will die sozialistische Regierung mit weiteren Maßnahmen gegen den Extremismus im eigenen Land vorgehen. So sollen hunderte Imame und andere Muslime in zivilen Trainingsprogrammen ausgebildet werden. Das soll sie dazu befähigen, später als Geistliche in Gefängnissen und beim Militär zu arbeiten.
Das in Lyon gestartete Programm geht noch einen Schritt weiter: An der dortigen Ausbildung nehmen auch Regierungsbeamte teil. "Wenn sich die Dinge verändern, müssen wir in jeder nur denkbaren Hinsicht darauf reagieren", sagt Michel Younes, einer der Co-Direktoren des Lyoner Programms. "Darum unterrichten wir nicht nur Imame, sondern auch städtische und staatliche Angestellte in Fragen des Säkularismus. Das ist nötig, weil Religion in der Öffentlichkeit regelrecht tabu ist. Zusammenzuleben ist mehr als nur eine Idee: Es heißt, zusammen zu sein, zusammen zu denken, Ideen auszutauschen."
Imame aus dem Ausland
Frankreich hat zum Islam ein seit jeher schwieriges Verhältnis. Und das, obwohl dieser die zweitgrößte Religion des Landes darstellt. Angespannte Debatten über das Kopftuchverbot in öffentlichen Schulen, über religiöse Schlachtmethoden und Bestattungsriten haben die Missverständnisse zwischen dem französischen Staat und den rund fünf Millionen französischen Muslimen wachsen lassen.
Das Thema ist auch deshalb schwierig, weil die meisten Imame Ausländer sind. Denn an dem schlecht bezahlten Beruf haben nur wenige ethnische Franzosen Interesse. Darum kommen die meisten Imame aus Nordafrika und der Türkei. Diese Staaten übernehmen auch ihre Bezahlung und finanzieren oftmals den Bau von Moscheen. Viele dieser Imame haben von den französischen Sitten und Gesetzen nur eine dürftige Vorstellung und sprechen nicht einmal die Sprache des Landes.
"Diese ausländischen Imame sind nicht sehr hilfreich", sagt Hacene Taibi, der Ausbildungsbeauftragte der Großen Moschee von Lyon, der die Vorlesungsreihe mitorganisiert. Der Imam dieser Moschee, ein Tunesier, hält seine Predigten sowohl auf Arabisch als auch auf Französisch. "Einige unserer Gläubigen akzeptieren keine Imame, die kein Französisch sprechen", sagt Taibi. "Dieses Trainingsprogramm hilft den Neuankömmlingen zu verstehen, wie die französische Gesellschaft funktioniert."
Das 24 Wochen dauernde Programm beinhaltet Unterricht in Gesetzeskunde und Religion. Außerdem zeigt es den Teilnehmern, wie sich die Prinzipien des Säkularismus im täglichen Leben auswirken. Die Studenten besuchen Kirchen, Moscheen und Synagogen. Am Ende des Trainings erhalten sie ein Zertifikat, das ihnen bescheinigt, mit den Prinzipien des Säkularismus vertraut zu sein. Seit dem Start des Projekts 2012 wurden Dutzende Imame und andere Muslime ausgebildet.
Zu diesen gehört etwa der Koranlehrer Baian, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte. "Man hat mich eingeladen, an diesem Programm teilzunehmen, um anschließend über den Säkularismus sprechen zu können", berichtet er. "Denn hier in Frankreich müssen wir alle zusammen leben."
Herausforderung Salafismus
Karim Ghanemi, der Vizepräsident eines lokalen Moscheenverbandes, war erstaunt zu hören, dass säkulare Gesetze auch der Religion ihren Platz garantieren. Diese Erkenntnis könne helfen, die Anziehungskraft des radikalen Islam zu verringern, sagt er. "Muslime in Frankreich fühlen sich unterdrückt - und das, obwohl ihnen Glaubensfreiheit gegeben ist. Dadurch können Vorurteile und Missverständnisse ausgeräumt werden."
Die Sorgen der französischen Behörden gehen jedoch über kulturelle Missverständnisse hinaus. Denn die Zahl der Moscheen, die von fundamentalistischen Predigern kontrolliert werden, hat sich Presseberichten zufolge in den letzten vier Jahren verdoppelt. Frankreich hat deshalb in jüngster Zeit immer wieder radikale Prediger ausgewiesen.
Radikalisierungsgefahr im Internet
Hingegen versichern muslimische Vertreter, dass sich die Mehrheit der Imame und anderer einflussreicher Muslime in die entgegengesetzte Richtung bewege: "Gehen Sie zu den Freitagsgebeten. Dort werden sie hören, dass sich alle Imame gegen den Extremismus aussprechen", sagt Taibi von der Lyoner Moschee. "Wir verfolgen mit unseren Lehrprogrammen an der Moschee genau die gleichen Anliegen."
Unsicher ist, ob Programme wie diese tatsächlich die jungen französischen Muslime erreichen, die durch das Internet radikalisiert werden. "Sie haben sich von der Moschee entfernt", gibt Tarek Oubrou, Rektor der Moschee von Bordeaux, zu bedenken. "Sie haben keine Bärte und tragen keine Gewänder, sie verrichten nicht einmal ihre Gebete. Es handelt sich um gewöhnliche Kriminelle. Aber man kann von den Imamen nicht erwarten, Probleme zu lösen, die die Gesellschaft verursacht hat."
Vielfalt und Debattenkultur
Andere sind hingegen davon überzeugt, dass selbst die bescheidensten Aktionen besser sind als keine: "Die Öffentlichkeit nimmt es nicht hin, dass man nichts unternimmt, um diese Kinder zu retten", sagt der Kriminologe Alain Bauer. "Das wollen auch die Eltern nicht, die ihre Kinder verlieren. Viele von ihnen finden eines Tages eine kleine Notiz ihres Kindes: 'Ich gehe in den Dschihad. Ich bin glücklich und liebe euch.'" Das gehe derzeit vielen Eltern so, sagt Bauer.
Michel Younes von der Katholischen Universität räumt ein, dass das Anti-Extremismus-Training hier an Grenzen stößt. "Trotzdem müssen wir irgendwo beginnen", sagt er. "Wenn mehr Muslime ausgebildet werden, können diese auch eine andere Lehre verbreiten. Darauf kommt es an. Wir müssen den Umgang mit Vielfalt lehren und eine Debattenkultur entwickeln. Ansonsten können wir dem radikalen Islam im Internet nichts entgegensetzen."
Das Lyoner Programm trägt auch auf andere Weise dazu bei, dass sich die Menschen näher kommen. Laurent Jacquelin, der in der Regionalverwaltung arbeitet, berichtet von gemeinsamen Essen nach dem Bibelunterricht. Dabei entfalteten sich immer wieder Diskussionen mit den muslimischen Lehrgangsteilnehmern. "Auf diese Weise können wir das stärken, was uns gemeinsam ist, nämlich unsere Menschlichkeit", sagt er. "Und das hilft, die gegenseitige Achtung zu fördern."
Elisabeth Bryant
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