Der letzte Ausweg
In der Märtyrer-Imran-Imran-Straße 4 ist das Paradies zu finden. Ursprünglich hatte die Straße einen anderen Namen und beheimatete "das größte Casino im Lande“. Vielleicht nicht ganz zufällig ist sie jetzt die Adresse einer Agentur, die sich "Paradise“ nennt und verzweifelten Menschen gegen eine Gebühr einen Ausweg aus ihrem unglücklichen Dasein verspricht.
Allerdings gibt es für sie danach kein Zurück mehr, sie haben sich entschlossen, ihr Leben zu beenden, doch ob sie dadurch tatsächlich an das gewünschte Ziel kommen, bleibt natürlich offen.
Eine bessere Lösung als zu sterben scheinen die betroffenen Menschen nicht zu finden. Auch Salam, eine junge Schriftstellerin, die seit Längerem unter einer Schreibblockade leidet, sucht dringend einen Ausweg aus ihrer Sinnkrise.
Sie bezeichnet sich mit gerade einmal 32 Jahren als "Loserin“, so zögert sie nicht lange und ergreift den sich ihr bietenden Strohhalm, indem sie auf eine Anzeige reagiert, die ihr einen Job für "gutes Gehalt“ verspricht und von ihr nicht mehr fordert als "Schreibtalent“ und eine "überdurchschnittliche Beobachtungsgabe“.
Salam, die keinen Mangel an kreativer Fantasie zu haben scheint (ihre grandiosen Formulierungskünste an vielen Stellen im Text zeugen davon), hat keine Skrupel, Mitarbeiterin jener dubiosen Agentur zu werden und ihre Schreibfähigkeiten darauf zu verwenden, "Sterbeszenarien“ für die überwiegend weiblichen Klienten zu verfassen.
Dies bedeutet konkret, dass Salam die Art und Weise festlegt, wie die Klienten sterben sollen: durch eine Haarnadel, die in eine Steckdose geleitet wird, durch Erhängen, Erschießen oder einen Sprung vom Balkon in die Tiefe.
Salam setzt der Job zwar psychisch zu, doch hält sie ihn für moralisch vertretbar: "In einem Land wie unserem ist alles legitim, Suizid, Mord, Korruption, Raub, Ignoranz, sogar Sattsein, all diese Dinge sind legitim und dokumentierbar und rechtfertigen die Eröffnung einer Agentur, die sie fördert und in ihrer ganzen Pracht zur Entfaltung bringt.“
Mit dieser zynischen Einsicht korrespondiert die Verzweiflung vieler im Roman auftretenden Menschen, die einsam und hoffnungslos wirken oder in einer unglücklichen Ehe leben wie die junge May, die an einen unsensiblen, gefühlskalten Mann gebunden ist, der ihren ersten Hochzeitstag vergisst und sie nur als Objekt seiner sexuellen Begierde betrachtet.
Keinen Augenblick denkt May daran, sich von ihm scheiden zu lassen, und wählt stattdessen den Weg in die verhängnisvolle Agentur.
Sanhouris Romanidee, die Situation orientierungsloser Menschen auszunutzen und auf ihrer Resignation ein profitables Geschäft zu gründen, ist nicht ohne ironisch-skurrilen Reiz. Der reibungslose Ablauf dieser unheimlichen Selbstmordmaschinerie wird noch komplettiert durch den Einsatz eines Fotografen, der das Sterben filmt und gewissermaßen ordnungsgemäß dokumentiert.
Grotesker Slapstick
Ein Vorgang, der an die Schattenseiten unseres bilderwütigen Medienzeitalters erinnert, das Bilder und Filme von Sterbenden online stellt.
So gesehen funktioniert der Roman als Parabel auf eine Gesellschaft, die zunehmend in eine Sinnkrise zu geraten scheint. Mehrfach wird im Roman die philosophische Frage gestellt, "was das grundsätzliche Trachten des Menschen ist“.
Die Antwort, die dort gegeben wird, scheint nicht die richtige zu sein: "Die Suche nach Sinn und einem Ziel.“
Wäre diese Antwort wahr, gäbe es die Sterbeagentur nicht und es würden sich nicht täglich neue Opfer dorthin verirren.
Die Romanfiguren, die neben Salam auftreten, wirken mitunter ein wenig holzschnittartig, sie agieren nahezu slapstickartig und ihre Charakterzüge sind ins Groteske überzeichnet.
So begegnen wir einem dem Alkohol verfallenen Poeten, einem unter Zitteranfällen leidenden Fotografen, einem typischen reichen Geschäftsmann, der nicht davor zurückschreckt seine mit Schmuck behangene Ehefrau töten zu lassen.
Es sind allesamt keine vielschichtigen Individuen, mit denen wir uns identifizieren könnten, was natürlich auch an der beabsichtigten grotesken, anti-psychologischen Erzählweise liegt.
Dennoch hat der Roman seinen eigenen stimmigen Sound, der nachklingt und eine große stilistische Begabung der Autorin verrät.
Sanhouri, die für ihre Texte bereits mehrere Auszeichnungen erhalten hat, ist Gründerin von #OneDayFiction, einem Kulturprojekt, das angehende Schriftsteller und Schriftstellerinnen fördert.
"Paradise“ ist ein düsterer Roman, skurril und voll schwarzem Humor, den Christine Battermann in ihrer Übersetzung wirkungsvoll zur Geltung bringt. Es ist das Verdienst des Schiler & Mücke-Verlags, Sabah Sanhouri für den deutschen Büchermarkt entdeckt zu haben.
Volker Kaminski
Sabah Sanhouri, "Paradise" Roman aus dem Sudan, aus dem Arabischen übersetzt von Christine Battermann, Verlag Schiler & Mücke 2022, 168 Seiten