Terrorismus oder Verzweiflungstat?

Sahar Khalifa ist seit Jahrzehnten eine scharfe Kritikerin der palästinensischen Gesellschaft. In ihrem Roman "Heißer Frühling" schildert sie die Entwicklungen seit dem Beginn der zweiten Intifada im Herbst 2000 und porträtiert einen jungen Selbstmordattentäter. Von Martina Sabra

​​Ahmed Kassam, der Jüngere, ist schüchtern, gehemmt; er fühlt sich am wohlsten, wenn er allein mit seiner Kamera unterwegs ist, um Fotos zu machen. Madjid, der Ältere, liebt große Auftritte vor Publikum; er träumt davon als Sänger und Tänzer in Europa groß herauszukommen.

Die beiden palästinensischen Brüder aus einem Lager im Westjordanland eint nicht nur eine gewisse künstlerische Ader. Sie sind auch beide erstaunlich unpolitisch. Auf die Straße gehen, um vor laufenden Fernsehkameras israelische Besatzungssoldaten mit Steinen zu bewerfen? Es gibt Wichtigeres.

Während Ahmed sich mit einem kleinen Mädchen aus einer benachbarten jüdischen Siedlung befreundet und seine Katze pflegt, streitet Madjid sich mit dem Vater über Designerklamotten.

Fadl Qassam, Gelegenheitsjournalist und Besitzer eines kleinen Buchladens hatte sich seine Söhne männlicher, politischer, kampfeswilliger gewünscht. Er fühlt sich verraten und hadert in Selbstgesprächen mit dem Nachwuchs:

"Was sind das für Kinder, die wir in die Welt gesetzt haben? Welche Nachkommen hast du gezeugt, Sohn des Lagers Ain Murdschan? Einen verklemmten Buben, der schief an dir vorbeischielt, schief redet und herumstottert, und einen Hallodri, der aus seinen Latschen singt, aber italienische müssen es sein, und ja keine billigen. Was für eine Revolution! Was für ein Preis!"

Vom Träumer zum Revolutionär

Doch Ahmed und Madjid werden schneller zu "Revolutionären" als dem frustrierten Vater lieb ist. Die politischen Verhältnisse lassen es nicht zu, dass die beiden friedfertigen Individualisten sich dauerhaft in ihren Nischen einrichten.

Die Umstände der erzwungenen Politisierung sind dabei teilweise geradezu tragikomisch. Der kindlich-naive Ahmed wird als angeblicher Terrorist festgenommen, als er in einer benachbarten jüdischen Siedlung nach seiner entlaufenen Katze sucht.

Als Ahmed nach Monaten Haft und Folter entlassen wird, ist er nicht mehr derselbe. Er spürt, dass seine Familie Angst hat, er könnte zum Terroristen werden. Doch der Vierzehnjährige hat keine Ambitionen, sich das Leben zu nehmen. Ein Quäntchen Bewunderung empfindet er aber doch, und Gereiztheit, weil so viele sich in sein Leben einmischen wollen.

"Eine Belagerung der Seele war das, eine Belagerung des Inneren. Was redeten sie nur alle? Wovor hatten sie solche Angst? Dass er sich in irgendwas verstrickte? Wie dumm sie waren! Die Fernsehbilder der halbwüchsigen Attentäter fielen ihm ein. Sie waren kaum älter als er, doch sie handelten, und das mit ganzem Herzen und ganzer Seele, voller Mut und Kühnheit. Sie waren zu beneiden!"

Trotz solcher Gedankenspiele bleibt Ahmed unabhängig und schließt sich keiner politischen Partei an. Stattdessen wird er Sanitäter.

Selbstmordattentäter durch Umstände

Anders sein älterer Bruder: Madjid, der eigentlich Sänger werden wollte, geht zeitweilig in den bewaffneten Untergrund, auch mit Islamisten. Später schließt er sich der Fatah an. Als im Frühjahr 2002 die israelische Armee den Amtssitz des palästinensischen Präsidenten Yassir Arafat belagert, gehört Madjid zu denen, die bis zuletzt Widerstand leisten.

Sahar Khalifa; Foto: Unionsverlag
Kritik an Politik und Gesellschaft mit poetischen Worten: Sahar Khalifa, die "Aufklärerin mit Gefühl"

​​Doch Revolutionsromantik steht nicht auf der Tagesordnung. Madjid avanciert zum PLO-Bonzen, seine Freundinnen und Freunde aus Jugendtagen erkennen ihn nicht wieder.

Die wachsende Kluft zwischen der palästinensischen Politikerkaste und dem palästinensischen Volk, personifiziert durch zwei schräge Brüder und einen frustrierten Vater: Die Schriftstellerin Sahar Khalifa hat ihren Roman eingangs als epische Familiensaga angelegt. Hätte sie es dabei belassen, hätte es ein weiterer gelungener Roman aus der Feder der kritischen palästinensischen Schriftstellerin werden können.

Doch Sahar Khalifa wollte auch demonstrieren, wie ein an sich verträumter, vollkommen friedlicher Junge allein aufgrund der Umstände zum Selbstmordattentäter werden kann. Und sie wollte einen Schlüsselroman liefern, der die Hintergründe der hoffnungslos verfahrenen politischen Situtation in Palästina schildert.

Abrechnung mit palästinensischer Führungsschicht

Last not least wollte sie mit den wichtigsten Akteuren der palästinensischen politischen Szene abrechnen. Tatsächlich lassen sich einige Figuren im Roman ohne große Umstände real existierenden palästinensischen "Polit-Bonzen" zuordnen.

Korruption, Denunziation, Verschwörungen bis hin zum politischen Mord: Khalifa prangert den Herrschaftsstil einer kleinen, von Israel protegierten Clique an. Sie kritisiert die Gewissenlosigkeit der winzigen palästinensischen Führungsschicht, deren Vertreter ihre politischen Überzeugungen längst aufgegeben und gegen fragwürdige Privilegien eingetauscht haben.

Enthüllungsliteratur, Familienepos und psychologisch ausgefeilter Entwicklungsroman: "Heißer Frühling" will alles gleichzeitig sein und ist am Ende doch nichts richtig. Die Ansätze und Ideen sind oft vielversprechend, verblassen dann aber jäh. Manche Handlungsstränge wirken allzu schnurgerade heruntererzählt, ohne Liebe zum Detail, ohne die Tiefe des Augenblicks, der Literatur spannend macht.

"Heißer Frühling" ist gut gemeint, sporadisch gut gemacht, aber literarisch kein Meisterwerk. Dennoch: Aufgrund der Brisanz des Themas, der aufschlußreichen Schilderungen des palästinensischen Alltagslebens und wegen der vielen politischen Details wird auch dieser Roman von Sahar Khalifa zahlreiche LeserInnen finden.

Martina Sabra

© Qantara.de 2008

Sahar Khalifa: "Heißer Frühling", Unionsverlag 2008, EUR 19,90

Qantara.de

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