Feministin und literarische Aktivistin
Bevor die couragierte Schriftstellerin Malika Moustadraf und ihre Texte im Fokus stehen, soll hervorgehoben werden, dass ihre Übersetzerin Alice Guthrie jeden einzelnen Text, den sie von Moustadraf ausfindig machen konnte, übersetzt und damit die Voraussetzung geschaffen hat, dass Menschen, die nicht der arabischen Sprache mächtig sind, in Moustadrafs literarische Welt eintauchen können.
Guthrie war in Moustadrafs Heimatstadt Casablanca, sie hat Freundinnen, Familie und Wegbegleiter getroffen und nach veröffentlichten Interviews und Beiträgen zur Autorin gesucht. Guthrie kam mit Moustadrafs Arbeiten 2016 in Berührung und übersetzte ihre Arbeit in den darauffolgenden Jahren.
Für arabisch schreibende Schriftstellerinnen ist es bis heute nicht selbstverständlich, publiziert geschweige denn übersetzt zu werden. Daher ist es ein Segen, wenn Menschen wie Alice Guthrie dafür Sorge tragen, dass die Literatur feministischer Autorinnen über Grenzen hinweg gelesen werden kann.
Jenseits vom Mainstream
Wer Literatur von arabischen Schriftstellerinnen lesen möchte, lässt sich im Netz inspirieren – wo auch sonst? In den Buchhandlungen finden sich nur wenige Werke, denn sie gehören nicht zum Standardrepertoire, noch weniger als die männlichen arabischen Autoren.
Viele Titel werden höchstens ins Englische übersetzt. Um arabische Begriffe, Redewendungen und Kulturspezifika zu erklären, hat Alice Guthrie ihrer Übersetzung von Moustadrafs Kurzgeschichten-Sammlung "Something Strange, Like Hunger“ ein Glossar beigefügt.
Darin wird beispielsweise der Begriff "Afārīt“ näher erläutert. Für das Verständnis der Kurzgeschichten ist es nämlich wichtig zu wissen, dass es sich hierbei um ein übernatürliches, dämonisches Geistwesen aus der islamischen Mythologie handelt, das Menschen im Guten wie im Bösen beeinflussen kann.
Guthries Glossar stellt auch Persönlichkeiten vor, die außerhalb der arabischen Welt nicht jedem und jeder geläufig sind. Wer ist Bouchaib El Bidaoui?, möchte man beim Lesen wissen und erfährt: Er war ein berühmter marokkanischer Sänger, der den Höhepunkt seiner Karriere in den 1950er und 1960er Jahren feierte und, wie das Glossar verrät, ganz wunderbar in Moustadrafs Geschichten passt.
Nicht zuletzt deshalb, weil er mit seiner schillernden Persönlichkeit stets Aufsehen erregte. Als männlicher Künstler sang El Bidaoui für den Geschmack einiger Konservativer die Töne zu hoch. Anstoß erregte auch, dass er sich allen Konventionen zum Trotz in traditioneller Frauenkleidung präsentierte.
Und so kommentiert in Moustadrafs Kurzgeschichte "Just Different“ der Freund einer Intersex- und/oder Transperson die Situation, in der der Lehrkörper scheinbare Andersartigkeit ins Lächerliche ziehen möchte mit: "Madonna, Elton John, und Bouchaib El Bidaoui werden alle in der Hölle sein, und dir Gesellschaft leisten. Und die Hölle wird das reinste Fest. Im Himmel werden der Islamlehrer und dein Vater und die anderen Studentinnen und Studenten aus der Koranschule sein. Der Himmel wird ein elender Ort sein.“
Der literarische Genuss wiegt die Mühe beim Nachschlagen definitiv auf und im Fall von Malika Moustadraf schon deshalb, weil eben solche Charaktere jenseits gesellschaftlicher Konventionen im Mittelpunkt stehen.
Sexarbeit und Klassengesellschaft
Manche Geschichten lesen sich, als kämen sie aus einer anderen Welt, aber andere könnten gut und gerne im Hier und Jetzt stattfinden. Moustadrafs Charaktere sind lebendig und bleiben im Gedächtnis, auch wenn sich ihre Spuren, wie es die Kurzgeschichte verlangt.
Die Themen, über die sie schreibt, sind, bedenkt man, dass die Geschichten um die Jahrtausendwende in einer islamischen Gesellschaft entstanden sind, provozierend, riskant und mutig. In Die List rettet eine Mutter waghalsig die Ehre der Familie und die Hochzeit der Tochter, indem sie den medizinischen Eingriff zur Wiederherstellung des Jungfernhäutchens koordiniert.
Eine andere Geschichte nimmt die Leser mit in Casablancas Seitenstraßen. Ein Zigarettenhändler schildert das nächtliche Treiben und hat den Imam dabei beobachtet, wie sich seine Blicke auf die leicht bekleideten Frauen richten. Die Kurzgeschichten greifen Tabuthemen auf wie beispielsweise die prekären Verhältnisse von Sexarbeitern, psychische Erkrankungen und die medizinische Versorgung im Land, die von Wohlstand und Klasse abhängig ist.
Wenn Autoren jung sterben, suchen die Leser manchmal schon fast wahnhaft im literarischen Material nach autobiografischen Details, die den frühen Tod erklären könnten. Guthrie hält in ihrem Kommentar zur Übersetzung der Erzählungen in "Something Strange, Like Hunger“ fest, dass dieses angestrengte Analysieren, die Fragen danach, welche Details und Einzelheiten denn autobiographisch sein könnten und welche nicht, schon zu Moustadrafs Lebzeiten eine Herausforderung für die Schriftstellerin darstellten.
In einem Interview sagte sie dazu: "Was mich wirklich beschäftigt ist, dass andere annehmen, was was ich geschrieben habe, sei autobiographisch. Warum können sie nicht akzeptieren, dass Frauen (ebenso wie Männer) eine ausgeprägte Vorstellungskraft haben?!“
Guthrie schreibt, dass die Frage nach dem autobiographischen Anteil an ihren Erzählungen immer wieder auftaucht, besonders aber wenn es um Moustadrafs noch nicht übersetzten Roman "Wounds of the Soul and the Body“ (arab. Jirah al-ruh wa-l-jasad) geht. Der Text, der in der ersten Person verfasst und 1999 veröffentlicht wurde, befasst sich mit Themen wie Sexarbeit und sexueller Gewalt.
In den späten 1990ern und den frühen 2000er Jahren waren diese Themen in der marokkanischen Gesellschaft mit enormer Scham besetzt. Diese Scham und das damit zusammenhängende Unwohlsein übertrugen die Leser vom Text auf die Autorin, so scheibt die Übersetzerin Guthrie in ihrem Kommentar.
Mostadraf erklärte sich das Problem so: "Frauen wurde schon immer, und wird immer noch, angelastet,sie seien selbst die wahren Protagonistinnen ihrer Texte. Warum werden Frauen, im Gegensatz zu Männern, für das, was sie schreiben angeklagt? Ganz einfach, weil wir in einer patriarchalen Gesellschaft leben."
Moustadrafs literarische Arbeit wurde bis zu ihrem Tod nur in Marokko veröffentlicht und zum Zeitpunkt ihres Todes, 2006, wurden ihre Bücher bereits nicht mehr gedruckt. Erst nach ihrem Ableben flammte das Interesse an der Feministin wieder auf und drei ihrer bis dahin noch unveröffentlichten Kurzgeschichten wurden auf Arabisch publiziert.
© Qantara.de 2023
"Something Strange, like Hunger" von Malika Moustadraf, aus dem Arabischen übersetzt von Alice Guthrie, Saqi Books 2022