Ein unsichtbarer Kampf
Das Jahr 2017 war erst wenige Minuten alt, als unschuldige Zivilisten aus aller Welt Opfer eines heimtückischen Terroranschlags auf den bekannten Istanbuler Nachtclub Reina wurden. Kaum überraschend stammten die meisten Opfer aus arabischen Ländern: Palästina, Libanon, Saudi-Arabien, Jordanien, Tunesien, Kuwait und Irak.
Die Opfer von Terroranschlägen der letzten fünf Jahre waren zu 82 bis 97 Prozent Muslime. Muslime in Ländern mit muslimischer Mehrheit waren das Hauptziel von IS, Al-Qaida und anderen Gruppen, die ihre vermeintlich religiösen Ziele weltweit mit Gewalt durchzusetzen versuchten. Muslime sind die Hauptopfer dieser Terroranschläge.
Der religiös begründete Terrorismus und "Takfirismus" – also die militante Bekämpfung religiöser und politischer Gegner, die der Apostasie bezichtigt werden – entstammen dem Glauben, dass alle, die einen anderen Weg wählen, Ungläubige seien und eliminiert werden müssten. Dies schließt auch eher nebensächliche Aspekte der islamischen Tradition ein.
Ein mit dem saudischen Terroristen Khalid al-Mawlid im Jahr 2013 geführtes Interview verdeutlicht das sehr anschaulich. Darin lässt er sich über das Grab des Propheten Mohammed aus, wobei er Millionen von Muslimen anklagt – auch den Interviewer selbst. Nach Al-Mawlids radikalem Islamverständnis muss das Grab des Propheten Mohammed zerstört werden. Der Islam verbiete Heiligen-Verehrung. Wer dafür sei, es in seinem gegenwärtigen Zustand zu bewahren, sei ein Apostat. Er müsse seine Sünden bereuen oder sterben – selbstverständlich durch die Hand der Rechtgläubigen. Zur gewaltsamen Durchsetzung seiner Forderungen schloss er sich in Somalia, Afghanistan und Pakistan terroristischen Aktivitäten an.
Stellung beziehen
Nach jedem Terrorangriff in Europa teilen sich die Menschen in den sozialen Medien in zwei Lager auf: Diejenigen, die die Angriffe rechtfertigen und hierzu alle verfügbaren religiösen und weltanschaulichen Gründe anführen. Und diejenigen, die diese Angriffe verurteilen und unablässig auf die missbräuchliche und manipulative Auslegung der Religion verweisen.
In den sozialen Medien findet gleichzeitig ein unsichtbarer Kampf statt. Einerseits die muslimischen und arabischen Aktivisten und Intellektuellen, die den Terrorismus und alle Formen des religiösen Extremismus verurteilen. Andererseits eine Minderheit nicht repräsentativer, konfus argumentierender muslimischer Gruppen, die den Islam und seinen Narrativ zur Rechtfertigung derartiger Terrorakte missbrauchen.
Der Kampf ist heftig. Insbesondere für diejenigen, die in westlichen Ländern und in wirtschaftlich entwickelten arabischen Gesellschaften arbeiten und leben – wie beispielsweise in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Den Terrorismus mit Intellektualismus zu bekämpfen oder zu versuchen, auf extreme Ideologien einzuwirken, ist extrem anstrengend, schwierig und ohne Beispiel.
Zahlreiche Muslime, arabische Intellektuelle und Aktivisten führen diesen Kampf mit aller Energie. Sie werden es auch in Zukunft tun – sei es persönlich oder über NGOs.
Hausgemachte Probleme
Viele extremistische Gruppen wurden im Westen gegründet und halten sich dort auf. Das macht die Sache noch komplizierter. Die Ereignisse nach dem Terroranschlag auf den Istanbuler Nachtclub verdeutlichen es. Anstatt den Anschlag zu verurteilen, wurden die sozialen Medien mit Beiträgen von Extremistengruppen geflutet. Sie waren es letztlich, die die Diskussion erfolgreich dominierten. Was zunächst als Bekundung tiefer Trauer begann, wurde maßgeblich eine Debatte darüber, ob die Opfer aus ethischer Sicht an einem solchen Ort hätten sein dürfen. Nach der Gleichung „Nachtclub = Lasterhöhle“.
Die gravierenden Differenzen unter den Benutzern der sozialen Medien sind ein Spiegelbild der sozialen und intellektuellen Kluft, die die arabische Region derzeit entzweit. Der jüngste Terroranschlag verdeutlicht erneut, wie dringend wir ein weitergehendes Verständnis von Extremismus und extremistischen Gruppen benötigen, wenn wir deren Aktivitäten erfolgreich bezwingen wollen.
Westliche und arabische Länder (wie die Vereinigten Arabischen Emirate und andere Golfstaaten) wären gut beraten, konsequente und harte Maßnahmen gegen religiöse Extremisten zu ergreifen, die den Mord an anderen aus ideologischen Gründen oder wegen deren Lebensweise fordern und dazu ermutigen.
In einem wirtschaftlich und sozial entwickelten Land zu leben und die Ermordung unschuldiger Menschen zu beklatschen, nur weil diese einen Nachtclub besuchten, ist nicht hinnehmbar. Derartige Ansichten und Meinungen nähren nur die Flammen, die der IS und andere entfachen.
Wer die Sympathisanten solcher Ideen und Vorstellungen nicht verurteilt, nimmt freiwillig auf einer Zeitbombe Platz. Denn diese Leute verdienen weder den wirtschaftlichen Wohlstand noch die soziale Gleichheit und Gerechtigkeit der zivilisierten Länder. Solche Errungenschaften sind ein hohes Gut und ein Luxus, der diesen Leuten nicht zustehen sollte angesichts der Tatsache, dass sie aktiv die Ermordung unschuldiger Menschen unterstützen und nach ihrer religiösen "Moralvorstellung" Extremismus und Terrorismus fördern.
Sofern offizielle Anstrengungen nicht angemessen durchgesetzt werden, laufen die vielen Vorstöße von Aktivisten und Intellektuellen zur Abwehr von Extremismus überall in der muslimischen Welt ins Leere.
Ein stärkerer politischer Wille in Verbindung mit erprobten Programmen zur Förderung von Ausbildung, Erziehung und Zivilgesellschaft ist unverzichtbar, wenn wir die Geißel der Fehlauslegung des Islam abwehren und diese im Kern friedliche Religion verteidigen wollen.
Abdalhadi Alijla
© Qantara.de 2017
Übersetzt aus dem Englischen von Peter Lammers