Jenseits des Mittelmeers
Versagen der Sicherheitskräfte, Gefährdung durch Geflüchtete und Migranten – und der Ruf nach härteren Gesetzen im Kampf gegen den Terror. Wie nach den Anschlägen im Juli 2016 und im November 2015 in Paris, wo ich lebe, wurde nach dem schrecklichen Attentat auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz auch die öffentliche Debatte in Deutschland von diesen Themen dominiert. Sie kontrovers zu diskutieren ist legitim und Teil einer notwendigen gesellschaftlichen Debatte. In Sachen Dschihadismus-Bekämpfung kratzt diese Debatte allerdings nur an der Oberfläche.
Was von den Politikern fast gar nicht und auch von den Medien kaum angesprochen wird, ist die Tatsache, dass unsere Auseinandersetzung mit dem Dschihadismus noch Jahrzehnte andauern wird.
Mein norwegischer Kollege Thomas Hegghammer hat vor kurzem einen sehr beunruhigenden Artikel in der Fachpublikation "Perspectives on Terrorism" veröffentlicht. Der Titel: "The Future of Jihadism in Europe: A Pessimistic View" ("Die Zukunft des Dschihadismus in Europa: eine pessimistische Sicht").
Hegghammer, einer der weltweit renommiertesten Spezialisten in Sachen Dschihadismus, nennt vier Hauptgründe oder besser vier Trends, warum der dschihadistische Terror Europa noch für Jahrzehnte heimsuchen wird.
Erstens: eine steigende Anzahl von ökonomisch benachteiligten muslimischen Jugendlichen.
Zweitens: eine durch Syrien- und Irak-Rückkehrer ansteigende Zahl von charismatischen Gefährdern und Anwerbern.
Drittens: die andauernden Konflikte in der arabischen Welt.
Viertens: die andauernde operative Freiheit für dschihadistische Untergrundakteure im Internet.
Wenn der Forscher am Institut des norwegischen Verteidigungsministeriums von einer ansteigenden Zahl von wirtschaftlich schwachen Muslimen spricht, macht er hierfür nicht nur eine wachsende Anzahl von Migranten verantwortlich, sondern auch eine höhere Geburtenrate sowie soziale und wirtschaftliche Diskriminierung.
Ich selber habe in den letzten Jahrzehnten in Europa und in der arabischen Welt mit Dutzenden von Dschihadisten gesprochen. Lange hielt ich die Ideologie des Terrors für ein Randphänomen, ein gefährliches, aber eines, dessen man relativ schnell Herr werden könnte, auch nach dem 11. September.
Doch seit dem US-Einmarsch in den Irak 2003 und seinen Folgen kam ich langsam zu der Überzeugung, dass die Konfrontation mit den Dschihadisten noch Generationen betreffen wird. Für mich kommen zu den von Hegghammer genannten Gründen noch mindestens drei weitere hinzu:
Erstens: die Ausbreitung einer dschihadistischen Antikultur und Ideologie vor allem unter jungen Europäern seit dem US-Einmarsch im Irak
Zweitens: das Fehlen einer gemeinsamen europäischen Politik gegenüber den arabischen Diktaturen, die erst den Nährboden für den Dschihadismus geschaffen haben.
Hiermit meine ich etwa das Assad-Regime, aber vor allem auch unseren Wirtschaftspartner Saudi-Arabien: Die Saudis haben mit der weltweit und somit auch in Europa lange geduldeten Propagierung ihrer Staatsdoktrin des Wahhabismus den geistigen Nährboden für den Dschihadismus geschaffen.
Drittens: eine zunehmende doppelte Polarisierung – auf der einen Seite die Polarisierung unserer Gesellschaften mit einem erstarkenden Rechtspopulismus, der mit seiner Islamfeindlichkeit den Rattenfängern des vermeintlichen Dschihad noch mehr verirrte Seelen in die Arme treibt. Genau dies ist natürlich das Ziel der Anschläge in Europa. Auf der anderen Seite wollen die Dschihadisten auch die Polarisierung zwischen Europa und seinen südlichen Mittelmeernachbarn vorantreiben. Ihr Ziel ist es, den "clash of civilizations" zu provozieren, um vorlügen zu können, sie seien die Verteidiger des Islam.
Um den Terror wirkungsvoll zu bekämpfen, müssen unsere Politiker ganz klar öffentlich eingestehen, dass die Konfrontation mit dem Dschihadismus noch Jahrzehnte dauern wird und dass sich das Übel nur besiegen lässt, wenn all seine Wurzeln bekämpft werden, die ideologischen, die gesellschaftlichen und die sozioökonomischen.
Die militärische Zerstörung des Kalifats der Barbarei ist da ebenso notwendig wie eine bessere und wirklich koordinierte europäische Sicherheitspolitik – fast alle der Mörder, die von Brüssel, Paris und von Berlin, haben sich in mehreren europäischen Ländern aufgehalten, waren zum Teil als Gefährder bekannt. Dies reicht jedoch keinesfalls aus.
Bin Laden ist seit mehreren Jahren tot, und der Kalif des Terrors wird wohl vermutlich auch irgendwann eliminiert, doch das giftige Gedankengut des Dschihadismus wird weiter bestehen. Deshalb kommt der ideologischen Auseinandersetzung mit dem Dschihadismus und der Entgegnung eine große Bedeutung zu.
Dabei geht es nicht nur darum, die verlogene Heilslehre "Sprengt Euch in die Luft, tötet die Ungläubigen – dann kommt Ihr ins Paradies" zu widerlegen. Es muss jenseits von populistischer Polemik offen diskutiert werden, welche Konzepte des Islam sich so einfach von Dschihadisten deformieren und für die Zwecke ihrer Terrorideologie nutzen lassen.
Mode-Begriff "Gegen-Narrativ"
Im Zusammenhang mit der ideologischen Konfrontation ist der Begriff "Gegen-Narrativ" in den letzten Jahren zu einem Modewort geworden. Doch sich lediglich gegen etwas zu positionieren ist eine Form von Defensive – ein Reagieren. Es geht jedoch vor allem darum, zu agieren: sich mutig zu positionieren und unsere Vision von freiheitlichen, rechtsstaatlichen und solidarischen Gesellschaften klar zu artikulieren und deutlich zu machen, dass der dschihadistische Irrglaube diesbezüglich nichts zu bieten hat.
Thomas Hegghammer führt das Internet als einen der Faktoren zur Ausbreitung des Dschihadismus an. Das ist richtig – ich selber habe lange zu dem Thema Internet als dschihadistisches Propaganda- und Mobilisierungsinstrument geforscht. Mehr Selbstkontrolle der sozialen Netzwerke und die Löschung dschihadistischer Einträge sind sicherlich notwendig. Doch weder Massenüberwachung noch eine Beschneidung der Internetfreiheit haben bisher die Ausbreitung des Dschihadismus verhindert. Daher ist es mindestens genauso wichtig, den Web-Seiten des Terrors mit ihrer verlogenen Version des Islam etwas entgegenzusetzen. Dies kann jeder Internetnutzer tun.
Im Kampf gegen die Ideologie des totalen Terrors müssen wir natürlich auch dem sozialen und wirtschaftlichen Ausschluss eines zu großen Teils der muslimischstämmigen Bevölkerung in Europa entgegentreten. Europa wird sich auch nicht von seinen südlichen Mittelmeernachbarn abschotten können, wir leben in einer globalisierten Welt.
Wir werden viele Probleme der arabischen Welt nicht lösen können, aber wir können trotz Brexit eine gemeinsame Außenpolitik schaffen, die einerseits durch eine klare Haltung gegenüber den arabischen Potentaten und auf der anderen Seite durch massive sozioökonomische Hilfe und Bildungsmaßnahmen dem Dschihadismus dort allmählich Teile des Nährbodens entziehen kann.
Vor allem müssen wir der Polarisierungsfalle entkommen, und da fällt natürlich den Medien eine besondere Bedeutung zu: Es existieren nicht "wir und die anderen", die Einwanderer, die Muslime und diejenigen auf der anderen Seite des Mittelmeers. Alle sind Opfer des blinden Terrors, der in Europa Hunderte getötet hat und in der arabischen Welt Zehntausende.
Bilder und Berichte von Flüchtlingsströmen, von IS-Terror und totaler Zerstörung schüren Angst. Dabei gibt es aus der arabischen Welt wesentlich mehr zu berichten. Unter sehr schwierigen Umständen, unter schlimmen Diktaturen versuchen dort lebhafte Zivilgesellschaften, Freiräume zu verteidigen und für ein würdiges Leben zu kämpfen. Mit unseren Nachbarn im Süden verbindet uns viel mehr als uns trennt. Den Dschihadismus zu bekämpfen, bedarf es sehr viel Mut, Ausdauer, offene Worte – nicht nur von unseren Politikern, sondern von jedem in unserer Gesellschaft.
Asiem El Difraoui
© Asiem El Difraoui 2017
Der Autor ist ein deutsch-ägyptischer Politologe und Mitgründer der Denkfabrik "Candid Foundation" in Berlin und Paris.
Dieser Artikel erschien ursprünglich in der „Welt“ am 25.12.2016.