Vor dem Abriss bewahren
Menschenmengen schieben sich durch die engen Gassen der Altstadt zwischen Stühlen, Kaffeetischen und den Lautsprecherboxen kleiner Musikensembles entlang. Nach dem Fastenbrechen ist die Altstadt von Tunis im Ramadan seit einigen Jahren der angesagteste Ort, um sich auf Kaffee, Tee oder eine frische Zitronenlimonade zu treffen. Deren Preise schießen im Fastenmonat in die Höhe, bevor nach vier Wochen in der Medina von Tunis alles wieder seinen gewohnten Gang geht.
Die größte arabische Altstadt, von der Unesco als Weltkulturerbe eingestuft, werde im Ramadan zu einem "Freilichtmuseum", so der deutsche Stadtsoziologe Raoul Cyril Humpert, der seit 2014 dort lebt und forscht. Im Rest des Jahres "will dort eigentlich niemand leben." Die meisten Häuser sind in schlechtem Zustand und so groß, dass sie den heutigen Familienstrukturen kaum noch entsprechen.
Die unzähligen Zimmer, um einen großen Innenhof angelegt, eigneten sich höchstens für Wohngemeinschaften, so Humpert. Doch die haben in der Regel nicht die finanziellen Mittel, die baufällig gewordenen Häuser in Stand zu setzen. Für ein Haus in der Medina müssten Käufer derzeit zwischen 150.000 bis 250.000 Dinar (rund 50.000 bis 80.000 Euro) hinlegen. Die Renovierung würde jedoch oft das Doppelte kosten.
Beginnendes Interesse für die Altstadt
Bei der Frage nach einer drohenden Gentrifizierung der Medina von Tunis schmunzelt Humpert. "Von einer Entwicklung wie in Marrakesch oder Jaffa, dem Beispiel par excellence für eine gentrifizierte Medina", sei Tunis Lichtjahre entfernt, ist er überzeugt. Zwar entdeckten langsam einige Ausländer und Tunesier die historische Altstadt für sich, kaufen und renovieren alte Wohnhäuser, eröffnen Läden und Hotels, doch diese Entwicklung schreite nur sehr langsam voran.
Anfang der 2000er Jahre begann der halbstaatliche "Verein für den Schutz der Medina von Tunis" (Association de sauvegarde de la médina de Tunis), im nördlichen Teil der Altstadt einige Straßenzüge rund um die Pacha-Straße zu renovieren. "Erst heute, knapp 20 Jahre später, ziehen dort die Preise ganz langsam an", sagt Humpert. Nach wie vor gäbe es dort viel Leerstand, so dass bis jetzt auch keine Verdrängung der Bewohner zu beobachten sei. Hinzu kommt, dass durch das komplizierte tunesische Erbrecht oft mehrere Dutzend Erben einem Verkauf zustimmen und sich Wechsel von Besitzern daher oft über mehrere Jahre in die Länge ziehen.
Lebten zur Zeit der Unabhängigkeit 1956 noch rund 100.000 Personen in der Medina, sind es heute noch gerade einmal 23.000. Die sogenannten Baldiya, die alteingesessenen Familien der Oberschicht der Hauptstadt, sind zwischen den 1970er und 1990er Jahren in die teuren Vororte am Meer gezogen. Nachgekommen sind Familien der Souvenirhändler und Familien der unteren Mittelschicht oft aus dem ländlichen Raum, die in der Medina günstig einfachen, zentral gelegenen Wohnraum gefunden haben.
Ein Potemkinsches Dorf tunesischer Bauart
Auch im südlichen, sozial noch schwächeren Teil der Altstadt wurden in den letzten Jahren vereinzelt Renovierungsmaßnahmen durchgeführt, allerdings nur oberflächlich. "Die von der Französischen Entwicklungsagentur (AFD) durchgeführten Maßnahmen waren überwiegend kosmetischer Natur", so Humpert. "Oft sieht man gestrichene Mauern mit schönen bunten Fenstern und Türen, doch dahinter befindet sich nur eine Ruine."
Dass Häuser schlecht in Stand gehalten sind oder gar verfallen, ist ein Problem, das nicht nur in der Altstadt, sondern vor allem in den Kolonialvierteln rund um die historischen Viertel herum immer mehr zum Problem wird. Die tunesische Regierung hat vor Kurzem einen Gesetzesvorschlag veröffentlicht, der den Abriss einsturzgefährdeter Gebäude erleichtern soll, um die Bewohner zu schützen. Doch dagegen regt sich massiver Widerstand. Kritiker befürchten, das Gesetz würde schnell zum Freifahrtschein für Immobilienspekulanten.
Emin Turki, Architekt und Gründungsmitglied des "Vereins Bauwerke und Erinnerungen" (Edifices et mémoires) setzt sich dafür ein, dass historische Bauten erhalten bleiben. Er will die Bevölkerung und die Entscheidungsträger für ihren historischen Wert sensibilisieren. Sein Verein organisiert gegenwärtig in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut eine Reihe von Kunst- und Diskussionsveranstaltungen in historischen Gebäuden wie zum Beispiel im ehemaligen Casino von Hammam-Lif, einem südlichen Vorort von Tunis. Dieses wurde für diesen Zweck extra der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Das derzeit erneut auflebende Interesse an der Medina gehe unterdessen mit der stärkeren Rückbesinnung auf Traditionen einher, die Tunesien seit dem Umbruch von 2011 erlebe, so Turki. Die Kolonialviertel mit ihren von Jugendstil und Art Déco beeinflussten Gebäuden würden dabei jedoch völlig außer Acht gelassen.
Fehlende Stadtentwicklungspolitik
"Die Priorität des Staates ist der Tourismus, aber der darf doch kein Zweck an sich sein, denn dann geht es nur noch darum, hübsche Fassaden zu bewahren." Die politisch-historische Bewertung der Kolonialzeit dürfe kein Bewertungskriterium dafür sein, welche Gebäude zu erhalten seien, so Turki.
Von einer ganzheitlichen Stadtentwicklungspolitik sei man weit entfernt. Das staatliche Institut für Kulturerbe, das dafür zuständig ist, welche Gebäude unter Denkmalschutz gestellt werden, interessiere sich jedoch nur für die arabisch-muslimische Epoche, kritisiert er.
Hinzu kommt, dass der Staat die Hälfte der Kosten für Instandhaltung und Renovierung von geschützten Gebäuden übernehmen muss. Seit 2011 wurde in der Hauptstadt kein einziges Gebäude mehr unter Denkmalschutz gestellt.
Neben der Anzahl der Erben kommt in den Kolonialvierteln von Tunis hinzu, dass die Eigentumsverhältnisse oft ungeklärt sind. Bei vielen Gebäuden existieren keine Einträge im Katasteramt, andere gehören tunesischen Juden oder Europäern, die oft vor Jahrzehnten das Land verlassen haben und nicht mehr ausfindig gemacht werden können.
Auf staatliche Unterstützung zu warten lohne sich daher kaum, sind sich Turki und Humpert einig. Die komme - wenn überhaupt - nur punktuell. "Auf öffentliche Mülleimer haben wir bis 2017 gewartet, und die Fassaden wurden auch erst gestrichen, bevor Frankreichs Präsident Macron zu Besuch kam", erinnert sich der Stadtsoziologe. Kulturakteure bewegten deutlich mehr, wenn es darum ginge, das Image der Altstadt zu verbessern oder die Bevölkerung für den Wert historischer Gebäude zu sensibilisieren.
Sarah Mersch
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