Mit der Internet-Bilderflut gegen Kriegsverbrechen
Ein Büro mit Yucca-Palmen und Sofas in einem ehemaligen Berliner Gewerbehof. Fünf Aktivisten um die 30 sitzen vor Laptops. Auf den Bildschirmen laufen schreckliche Bilder – zu sehen sind vermutlich Opfer des grausamen Giftgasangriffs auf das syrische Ost-Ghuta von Anfang April.
Ein verwackeltes Smartphone-Video zeigt einen Syrer, der weinend vor übereinander liegenden Leichen steht, die meisten von ihnen sind Kinder - mit weißem Schaum vorm Mund, weit aufgerissenen Augen und grotesk-verzerrten Gesichtern.
"Auf Youtube, Twitter, Facebook & Co werden pro Tag durchschnittlich rund 400 solcher Videos hochgeladen", erzählt der syrische Menschenrechtsaktivist Hadi Al Kathib. "Die Aufnahmen stammen von TV-Journalisten, Menschenrechtsgruppen, Privatpersonen oder Überwachungskameras."
Dokumentation des Aufstands gegen Assad via Smartphone
Der 33-jährige studierte Politische Ökonomie in Damaskus und arbeite parallel als IT-Spezialist. 2010 floh er aus Syrien nach Europa, um sich dem Militärdienst zu entziehen. Den Beginn des Arabischen Frühlings verfolgte er vom Exil aus via Internet: "Das war damals ein neues Phänomen: Tausende von Menschen dokumentierten die Proteste mit ihren Smartphones und teilten ihre Videos über die sozialen Netzwerke."
Als immer mehr Videos über Gräueltaten im Syrienkrieg berichteten, gründete Al Kathib 2014 in Berlin sein Archiv: "Zuallererst ging es darum, die Videos zu sichern. Denn die Plattformen der sozialen Netzwerke löschen viele der Videos aufgrund anstößiger Inhalte."
So entfernte Youtube 2017 rund 300.000 Videos über den Syrienkrieg. Dabei sollte sich die Löschaktion eigentlich gegen Propaganda-Videos des "Islamischen Staates" richten. Weil die selbst lernenden Lösch-Algorithmen aber nicht unterscheiden, von wem das Material stammt, waren auch Videos von Journalisten oder Hilfsgruppen betroffen, die Kriegsverbrechen dokumentieren. "The Syrian Archive" konnte die Mehrheit der Videos jedoch vorher sichern.
Nach dem Speichern muss das Material akribisch geprüft werden: "Rund fünf Prozent davon sind Fake News", schätzt Al Khatib, "sie werden von allen Kriegsparteien eingesetzt!" Deswegen untersuchen die Aktivisten die Meta-Daten der Accounts, die die Videos verbreiten. Widersprüche bei Orts- und Zeitangaben, GPS-Koordinaten und der Veröffentlichungsgeschichte der Social-Media-Kanäle deuten auf Fake News hin.
Fake News entlarven
Außerdem wird das Bildmaterial per Bilder-Rückwärtssuche gescannt – etwa im Fall von Fake News über den US-Luftwaffenangriff auf Syrien von Mitte April: "Kurz nach dem Angriff wurden Ukrainer Videos veröffentlicht, die angeblich Nachtaufnahmen vom Bombenhagel auf Damaskus zeigen sollten", berichtet Al Khatib schmunzelnd. "Unsere Recherche zeigten, dass das Bildmaterial bereits drei Jahre alt war und ursprünglich aus ukrainischen Quellen stammte!"
Die Aktivisten – die neuerdings auch über den Prototype Fund gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziell unterstützt werden – arbeiten auch mit syrischen Menschenrechtsgruppen und Journalisten zusammen: Sie prüfen vor Ort, ob Personen, die Social-Media-Beiträge hochladen, vertrauenswürdig sind und befragen Zeugen.
Ein weiteres Hilfsmittel: Geolocation. Dabei werden Referenzpunkte in Videos wie Straßen, Berge oder Gebäudeumrisse mit Google Earth oder anderen Satellitenbildern verglichen, um Ortsangaben zu verifizieren. Zudem ziehen die Aktivisten Online-Wetter-Archive zur Hilfe, um meteorologische Sachverhalte zu überprüfen. Sogar Informationen zum Sonnenstand und Schattenwurf werden überprüft, um Orts- und Zeitangaben zu verifizieren. Selbst Flugzeugbewegung kann das Recherchekollektiv nachvollziehen – mit Hilfe von Satellitenbildern von Anbietern wie Digital Globe oder Airbus.
Dem Einsatz von Chemiewaffen auf der Spur
So haben die Aktivisten auch den mutmaßlichen Giftgasangriff im syrischen Duma Anfang April 2018 mit vermutlich mehr als 50 Toten untersucht: "Wir haben per Geolocation verifiziert, dass die Videos, die zeigen, dass dort ein Gaszylinder abgeworfen wurde, wirklich aus Duma stammen", erklärt Al Kathib. "In der Vergangenheit wurden solche Giftgaszylinder in Syrien mehrfach aus Hubschraubern abgeworfen. Die Flugzeugdaten zeigen, dass zum Zeitpunkt des Angriffs ein russischer Hubschrauber über der Stadt kreiste – der kann auch von der syrischen Armee eingesetzt worden sein. Das ist kein 100prozentiger Beweis, liefert aber deutliche Hinweise."
Mehr als eine Millionen Videos hat "The Syrian Archive" schon gesichert. Gut 4.000 davon sind verifiziert. Als Open-Source-Projekt stellen sie ihre Ermittlungsergebnisse jedem zur Verfügung – insbesondere Menschenrechtsorganisationen, Journalisten und Historikern. Zudem erstellen sie Dossiers über mutmaßliche Kriegsverbrechen wie Angriffe auf Krankenhäuser, Massaker an der Zivilbevölkerung oder den Einsatz verbotener Waffen wie Streubomben – zusammen mit Partner wie Amnesty, Bellingcat oder der US-Universität Berkeley, die ähnliche Netzrecherchen betreiben.
Dabei legen die digitalen Ermittler viel Wert auf ihre Unabhängigkeit – sie wollen die Gewalt aller Kriegsparteien dokumentieren: "Wir haben zum Beispiel auch recherchiert, dass der IS mehrfach Senfgas in Syrien eingesetzt hat und ermittelt, dass die US-Luftwaffe im März 2017 eine Moschee in Aleppo bombardierte, in der sich vor allem Zivilisten befanden." Die überwiegende Mehrheit der Kriegsverbrechen in Syrien, so Al Kathib, würde allerdings vom Assad-Regime begangen.
Digitales Beweismaterial gegen Kriegsverbrecher
Die jüngste Recherche des Kollektivs soll belegen, dass in Syrien zwischen 2012 und 2018 insgesamt 212 Angriffe mit chemischen Waffen stattgefunden haben – dafür wurden 2.000 Videos, Twitter-Nachrichten und Facebook-Posts analysiert.
Langfristig sollen solche Daten dabei helfen, Kriegsverbrecher zu überführen – zum Beispiel bei zukünftigen Prozessen des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag. Dort wurde 2017 erstmals ein Haftbefehl erlassen, der vollständig auf Informationen aus sozialen Netzwerken basierte.
Das Durchforsten des Internets nach digitalem Beweismaterial soll in Zukunft noch schneller gehen. Auf der Internetmesse re:publica 2018 Anfang Mai in Berlin stellt "The Syrian Archive" ihr neues Open-Source-Programm VFRAME vor: Es durchsucht das stetig anwachsende Material an Online-Videos automatisch auf Hinweise für den Einsatz illegaler Waffen - wie etwa Streumunition - und soll Menschenrechtsgruppen helfen, Kriegsverbrechen noch einfacher nachzuweisen.
David Siebert
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