"Wir werden hier noch verrecken!"
In der libanesischen Kleinstadt Arsal nahe der syrischen Grenze geht es zu wie in einem Bienenstock. Unzählige Toyotas mit schwarzgetönten Scheiben, breite Geländewägen und knatternde Offroad-Motorräder rauschen aneinander vorbei. Sie pressen sich in das Labyrinth aus engen Straßen und preschen weiter über unausgebaute Schotterpisten.
Die Fahrzeuge haben teils libanesische, meist aber syrische Nummernschilder. Das hat seine Gründe: seit dem Ausbruch des Syrienkrieges flohen über 100.000 Syrer nach Arsal und jeden Tag kommen neue Flüchtlinge hinzu. Nur halb so viele Libanesen wohnen dort, deren Häuser einsam im Meer neuerbauter Zeltstätte stehen.
In einem dieser Flüchtlingslager lebt Mostafa. Er floh aus dem zerstörten Homs in den Libanon. Als der 27-Jährige nach Arsal kam, dachte er, das Schlimmste überstanden zu haben. Er fand ein Zelt für seine fünfköpfige Familie und erhielt Unterstützung von dem Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR). Das war nicht viel, aber gerade genug, um über die Runden zu kommen. Heute, ein Jahr nach seiner Ankunft, hat er alles verloren. Schon im Frühjahr häuften sich Berichte, dass Islamistengruppen wie die syrische Nusra-Front und der "Islamische Staat" aus Syrien in die Berge um Arsal vorrückten. Im August brachen dann zwischen ihnen und der libanesischen Armee heftige Kämpfe im Stadtzentrum aus.
Terroristen in Arsal
Die syrischen Flüchtlinge gerieten zwischen die Fronten. "Die Soldaten beschossen das Lager und wir mussten um unser Leben rennen. Aus der Ferne sahen wir unsere Zelte plötzlich lichterloh brennen." Den Anblick kann Mostafa bis heute nicht vergessen. Sein letztes Hab und Gut ging damals in Flammen auf. Fünf Tage hielt die Auseinandersetzung an. Fünf Tage, in denen er und seine Familie ohne Essen und ohne Wasser in einem verlassenen Gebäude ausharrten. "Jeden Tag weinten die Kinder vor Hunger und Durst. Sie forderten: Holt uns etwas zu essen! Ich antwortete: Wenn ich raus gehe, werden die Scharfschützen mich töten", sagt Mostafa.
Infolge der Gefechte wuchs die Aggression zwischen Libanesen und Flüchtlingen in der Stadt. Vor allem da die syrischen Islamisten ein paar Dutzend libanesische Sicherheitskräfte verschleppt hatten. "Die Armee machte uns Syrer für alles verantwortlich. Sie warfen uns vor, mit den Dschihadisten unter einer Decke zu stecken", sagt Mostafa. Er breitet seine Arme hilflos aus. "Viele von uns wurden verhaftet und verhört. Warum? Was haben wir denn getan, außer um unser Leben zu rennen?"
Verbrannte Erde
Nach den Kämpfen war Mostafas Familie erst einmal obdachlos, da sie sich kein Zelt für umgerechnet 120 Euro leisten konnten. Schlussendlich half ihm die URDA (Union of Relief and Development Associations), eine libanesische NGO. Sie bezahlte ihnen eine Unterkunft unterhalb ihres alten Lagers, das bis heute verbrannte Erde ist.
Auf die UNHCR und andere internationale Hilfswerke warten die Flüchtlinge vergebens. Das ist Thema Nummer eins im Zelt von Samar, die mit ihrer Schwiegertante Sharihan und deren Freundin Iman zusammensitzt. "Wie sollen wir den Winter überstehen? Wir haben kein Benzin für die Öfen. Es fehlt an Essen, Decken, Teppichen und Schuhen für die Kinder", klagt Samar und zeigt auf die löchrigen Sandalen ihres dreijährigen Sohnes.
Samars Ehemann ist seit einem Schlaganfall im letzten Jahr querschnittsgelähmt und kann die Familie nicht versorgen. Als die Vorräte nach den Kämpfen knapp wurden, machte sie sich alleine auf den Weg in Richtung der Provinzhauptstadt Zahle, wo sich eine Anlaufstelle der UNHCR befindet. Weit kam sie aber nicht. Am Checkpoint vor Arsal hielten libanesische Soldaten sie an. "Sie fragten mich nach irgendwelchen Dokumenten, die ich nicht hatte und kannte. Dann schickten sie mich zurück", erzählt Samar.
Eingeschränkte medizinische Versorgung
"Für uns und die Kinder ist Arsal ein riesiges Freiluftgefängnis. Wir können nicht zurück nach Syrien und nicht weiter in den Libanon. Wir werden hier noch verrecken", sagt die junge Mutter Iman. Sie schnappt sich ihren fünfjährigen Sohn. Der kleine Junge schielt stark auf dem linken Auge. Vor zwei Tagen fing das an. Iman ist in großer Sorge und möchte ihn so schnell wie möglich zu einem Augenarzt nach Beirut bringen. Doch auch sie wiesen die Soldaten an der Stadtgrenze ab.
Im Zelt nebenan kniet Abu Ahmad auf einer Matte am Boden. Wie Imans Sohn braucht er dringend medizinische Hilfe von einem Spezialisten. Denn der 47-Jährige verlor seine Stimme fast vollständig aufgrund einer unbehandelten Kehlkopfentzündung. Mostafa taucht im Zelteingang auf. Er will für Abu Ahmad übersetzen, da dessen krächzende Stimme für Ungeübte nur schwer zu verstehen ist.
Den Krieg auf den Fersen
Abu Ahmad stammt aus Qusair in Syrien, das damals als eine Rebellenhochburg der Freien Syrischen Armee galt. Vor anderthalb Jahren nahm das Assad-Regime die Stadt mit Hilfe der libanesischen Hisbollah-Miliz ein. Über 50 Männer seien damals in Abu Ahmads Haus eingedrungen, um ihn zu verschleppen. Warum, wisse er bis heute nicht. Es gäbe keine direkte Verbindung zwischen ihm und der syrischen Opposition, behauptet er. Er reißt seinen Mund weit auf. An vielen Stellen fehlen ihm Zähne. Seine Peiniger hätten sie ihm gezogen, seine Hände mit Flammenwerfern versenkt und ihn mit starken Stromschlägen misshandelt.
Sieben Monate sei er tagtäglich gefoltert worden, bevor man ihn einfach irgendwo an der libanesischen Grenze frei ließ. "Im Gefängnis wurde er krank und kann seitdem nicht mehr sprechen", ergänzt Mostafa. In Arsal fühlt sich Abu Ahmad wieder einmal wie ein Gefangener. Sollten erneut Kämpfe ausbrechen, sitzen er und tausende andere Flüchtlinge in der Falle. Ihre Zelte sind vor Gewehrschüssen, Raketen und Bomben nicht sicher. Mostafa sagt: "Wir haben Syrien wegen des Kriegs verlassen. Doch der Krieg ist uns auf den Fersen."
Juliane Metzker
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