Kulturimperialismus oder interkultureller Diskurs

In der Diskussion um die Menschenrechte wird immer wieder deren Universalität behauptet und gegen den Anspruch unterschiedlicher kultureller Grenzziehungen verteidigt. Otfried Höffe plädiert für einen Rechtsdiskurs, der Raum für Verschiedenheit lässt.

Von Otfried Höffe

I.

Solange der Diskurs über die Menschenrechte vornehmlich von Europäern und Nordamerikanern geführt wird, können die anderen Kulturen eine neue Art von Kolonialismus oder Imperialismus, einen Rechtskulturimperialismus, befürchten. Ihm tritt der interkulturelle Rechtsdiskurs auf drei Ebenen mit einer Relativierung der europäisch-amerikanischen Sonderstellung entgegen:
- In der Rechtsgeschichte zeigt er, dass sich Ansätze von Menschenrechten, etwa der Schutz von Leib und Leben, von Eigentum und einem guten Namen ("Ehre"), in so gut wie allen Rechtsordnungen finden. Außerdem vergisst er nicht, dass unsere Kultur, obwohl sie sehr früh einen universalen Begriff des Menschen gebildet hatte - bei den Griechen: Vernunftbegabung, in Alt-Israel: Ebenbild Gottes -, noch jahrhundertelang elementare Rechtsungleichheiten, selbst die Sklaverei, pflegte. Nicht zuletzt weiß er, dass es erst zu jenen Pathologien, beispielsweise den blutigen Religionskriegen, kommen musste, bevor die Therapie, eben die Menschenrechte, virulent wurden.
- Auf der zweiten Ebene, der Rechtstheorie, beruft sich der interkulturelle Diskurs nicht auf partikulare Elemente unserer Rechtskultur, ihre oft einseitige Betonung des Individuums, sondern ausschließlich auf interkulturell gültige Elemente. Ihretwegen entwickelt er Grundsätze, die durchaus universell gelten - die Rede von Kulturen mit ganz anderen Werten ist ebenso voreilig wie gefährlich -, die aber zugleich für kulturelle Unterschiede offen sind.
- Schließlich verlangt der interkulturelle Diskurs, diesmal von der Rechtspraxis, die universal gültigen Grundsätze behutsam zu verwirklichen. Insbesondere müssen die anderen Kulturen jenes Recht erhalten, das sich Europa und Nordamerika auch genommen haben, das Recht, den universalen Menschenrechtsgedanken mit der eigenen Rechtskultur zu vermitteln.

II.

[Die] Menschenrechte verlangen zwar für ihre Positivierung genaue Bestimmungen. Bei der philosophischen Grundlegung empfiehlt sich aber eine bescheidenere, zugleich sachgerechtere Form des Universalismus; man weist lediglich Prinzipien aus. Diese bleiben für etwas offen, das Kommunitaristen als Alternative glauben einklagen zu müssen; in Wahrheit ist es jedoch von vornherein impliziert: Traditionen, Bräuche und wechselnde Kontexte. Gerade im Falle der Menschenrechte bedeutet Universalität nicht Uniformität, sondern das genaue Gegenteil: das Recht auf Eigenart, sogar Exzentrizität.

III.

Den Grundgedanken der Menschenrechte dürfen wir anderen Kulturen zumuten; mehr als den Grundgedanken - die wechselseitig zu gewährende Unverletzlichkeit jedes Menschen - freilich nicht. Und genau deshalb, weil für die konkretere Bestimmung ein hohes Maß an Freiheit bleibt, wohnt den Menschenrechten noch die Kraft zu einer zukunftsträchtigen Vision inne. Ihr zufolge führt die Globalisierung unserer Lebensverhältnisse zu einer Menschheit, die sowohl innerstaatlich als auch zwischenstaatlich dieselben elementaren Rechtsbedingungen anerkennt und sich trotzdem nicht von einer einzigen, der europäisch-nordamerikanischen Kultur, dominieren lässt. Die Menschenrechte erlauben der Menschheit eine Identität in Verschiedenheit.

Quelle: Zeitschrift für Kulturaustausch 1/2002 (Auszüge aus dem gleichnamigen Artikel)

© 2002 Otfried Höffe