Übergangsphase im Bürgerkrieg
Die Sicherheitslage im Irak hat sich seit Beginn der jüngsten amerikanischen Offensive im Januar 2007 erheblich verbessert. Es ist den US-Truppen gelungen, die ethnisch-konfessionellen Säuberungen in Bagdad deutlich zu reduzieren, indem sie schiitische Milizen und die sunnitische al-Qaida im Irak aus der Stadt verdrängt haben.
Die sunnitische Provinz Anbar im Westen des Landes ist weitgehend befriedet. Gleichwohl ist eine nachhaltige Stabilisierung des Irak nicht abzusehen, denn die irakische Politik nutzt die Verbesserung der Sicherheitslage nicht, um zwischen den Parteien tragfähige Kompromisse zu schmieden.
Sollte es 2008 nicht gelingen, die Grundlage für eine politische Aussöhnung zu schaffen, werden die Stabilisierungserfolge des Jahres 2007 lediglich in eine neue Phase des irakischen Bürgerkriegs überleiten.
Die neue US-Strategie
Die neue amerikanische Strategie beruht auf vier Hauptelementen: 1. auf der Erhöhung der amerikanischen Truppenzahlen im Irak und Änderungen in der Militärtaktik, 2. auf einem entschlossenen Vorgehen gegen schiitische Milizen, vor allem gegen die Mahdi-Armee des populistischen Predigers Muqtada as-Sadr, 3. auf Verhandlungen mit gemäßigteren sunnitischen Aufständischen mit dem Ziel, sie zur Aufgabe des bewaffneten Kampfes zu bewegen, und 4. auf der Bildung von Stammesmilizen zur Bekämpfung der verbleibenden Aufständischen.
Die US-Truppen konzentrierten ihre Maßnahmen in erster Linie auf Bagdad, da sich die Hauptstadt 2006 zum Zentrum des Konfliktes zwischen Sunniten und Schiiten entwickelt hat.
Ihr Vorgehen gegen die schiitischen Milizen dort, insbesondere gegen die Mahdi-Armee der Sadr-Bewegung, wurde zum Grundstein der amerikanischen Erfolge von 2007.
Sie hatte durch ihre Gewalttaten gegen Sunniten maßgeblich zur Eskalation der Auseinandersetzungen beigetragen. Die von der Mahdi-Armee ausgehende Gefahr ist allerdings noch nicht gebannt. Viele ihrer Kämpfer haben sich seit Ende 2006 in den Süden zurückgezogen und können jederzeit wieder mobilisiert werden.
Richtungswechsel der Stammesmilizen
Ein weiterer Grundpfeiler der amerikanischen Strategie waren Verhandlungen mit sunnitischen Aufständischen und Vertretern der Stämme in der Provinz Anbar und in Bagdad, die bereits 2005 einsetzten.
Viele Aufständische legten ihre Waffen nieder und ließen sich in die neu entstehenden Stammesmilizen integrieren, die von den US-Truppen mit Geld und Waffen versorgt wurden und die fortan al-Qaida bekämpften. Ihr Richtungswechsel ging auf eskalierende Konflikte mit al-Qaida zurück, die eine Führungsposition unter den Aufständischen beanspruchte und mit Gewalt durchzusetzen suchte.
Unter dem Druck der US-Truppen und der Stammesmilizen zogen sich die Kämpfer der al-Qaida daraufhin aus Anbar, Bagdad und Umgebung zurück und verlegten ihre Aktivitäten weiter nach Norden und Nordosten. Obwohl al-Qaida stark geschwächt ist, ist es zu früh, von einem endgültigen Scheitern zu sprechen.
Die Strategie der Stämme
Die Führer einzelner Stämme verpflichteten sich in Übereinkünften mit den US-Truppen, ihre Angriffe auf US- und irakische Truppen einzustellen, fortan gegen al-Qaida zu kämpfen und alles zu tun, um die neuen tribalen Milizen in die irakischen Sicherheitskräfte, in erster Linie die Polizei zu integrieren.
Der wichtigste Schritt war der "Rettungsrat Anbar" (Majlis Inqadh al-Anbar) oder auch "Erwachen Anbars" (Sahwat al-Anbar), der sich im September 2006 bildete.
Den Kämpfern wird von amerikanischer Seite ein monatliches Gehalt bezahlt. Viele Angehörige der Stammesmilizen wurden tatsächlich in die Polizei aufgenommen, und schon im Frühjahr 2007 verbesserte sich die Sicherheitslage in der Provinzhauptstadt Ramadi spürbar. Im Sommer war die einstige Unruheregion weitgehend gesichert.
Neuer politischer Akteur im sunnitischen Milieu
Die "Stammesstrategie" wurde auf Bagdad und Umgebung ausgeweitet und trug dort ebenfalls zu Erfolgen bei der Bekämpfung von al-Qaida bei. Anfang 2008 zählten die Mitglieder der auf diese Weise entstandenen Milizen, die sich "Räte des Erwachens" (Sahawat) nennen, bereits mehr als 70 000 Angehörige.
Die neuen Stammesmilizen haben das Kräftegleichgewicht in der irakischen Politik nachhaltig erschüttert. Im sunnitischen Milieu ist mit ihnen ein neuer politischer Akteur entstanden, der nachdrücklich Macht und Einfluss einfordert.
Insbesondere in der Provinz Anbar wehren sich die Stammesmilizen gegen die starke Stellung der Irakischen Islamischen Partei in der Provinzregierung. Sie fordern die Absetzung der Provinzregierung und eine Beteiligung an der Macht. Dieser Konflikt schwächt das ohnehin zerstrittene sunnitische Lager und erschwert es ihm, effektiv auf die Politik der Zentralregierung Einfluss zu nehmen.
Bürgerkriegspartei der Zukunft?
Die von Schiiten und Kurden kontrollierte Zentralregierung Maliki betrachtet die Stammesmilizen schlichtweg als sunnitische Terroristen, die sich aus rein taktischen Gründen zeitweilig geläutert zeigen.
Tatsächlich waren sunnitische Aufständische und Stammesvertreter auf die USA zugegangen, weil sich 2006 abzeichnete, dass sie ihren schiitischen Gegnern in Bagdad hoffnungslos unterlegen und weil sie nur durch diese Kehrtwende eine vollständige Niederlage abwenden konnten. Deshalb lehnen viele Politiker eine Integration dieser Einheiten in die Polizei und das Militär ab.
Insgesamt ist in Bagdad die Sorge verbreitet, dass die Amerikaner hier eine Bürgerkriegspartei der Zukunft heranzüchten, auf die die schiitischen Milizen mit entsprechenden Vorbereitungen reagieren werden. Sollten die neuen Milizen allerdings nicht in die Sicherheitskräfte integriert werden, drohen sie mit einer Wiederaufnahme des bewaffneten Kampfes.
Stammesmilizen und Zentralregierung
Eine Lösung des Problems der Stammesmilizen wäre nur dann möglich, wenn die Regierung Maliki auf die sunnitischen Organisationen zuginge und sich bereit zeigte, zumindest einige von ihnen effektiv an der Macht in Bagdad zu beteiligen. Bisher ist die Politik der Zentralregierung jedoch von beharrlicher Kompromisslosigkeit geprägt.
Statt auf eine Lösung zuzusteuern, scheinen sich die innenpolitischen Konflikte in Bagdad verfestigt zu haben. Die politischen Lager stehen sich weiterhin unversöhnlich gegenüber:
Auf der einen Seite die Regierung Maliki, die seit Sommer 2007 auf eine faktische Koalition aus dem schiitischen Irakischen Islamischen Hohen Rat, der schiitischen Daawa-Partei und den Kurdenparteien KDP und PUK zusammengeschrumpft ist. Ihr gegenüber stehen unter anderem die Sadr-Bewegung, die Irakische Liste Iyad Allawis und die sunnitischen Parteien im Parlament.
Nur einige Teile der sunnitischen Konsensfront, vor allem die Islamische Partei, scheinen bereit zu sein, mit der Regierung zu kooperieren, wenn diese denn ihre Politik zumindest teilweise korrigieren sollte.
Zweifelhafte Versöhnung
Anfang 2008 verabschiedete das Parlament zwar mehrere wichtige Gesetzesvorhaben, die als Gradmesser für die Bereitschaft der Regierung zur Versöhnung insbesondere mit den Sunniten gelten. Dennoch sind erhebliche Zweifel angebracht, ob die Implementierung der Gesetze diesem Ziel auch wirklich gerecht wird.
Zumindest die sunnitische Seite steht der Regierung mit berechtigtem Misstrauen gegenüber. Sollten im Jahr 2008 keine substantiellen Fortschritte erzielt werden, die auch eine Einbindung der Stammeskräfte ermöglichen, stehen nicht mehr nur auf schiitischer, sondern jetzt auch auf sunnitischer Seite die Milizen bereit, den Bürgerkrieg fortzusetzen.
Guido Steinberg
© Qantara.de 2008
Dieser Artikel ist eine gekürzte und aktualisierte Version von: "Trägt die neue Strategie im Irak? Anhaltender politischer Stillstand gefährdet die Erfolge bei der Aufstandsbekämpfung", Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Januar 2008 (SWP-Aktuell 9/2008)
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