Stasi-Aufarbeitung auf Arabisch
Judy Barsalou hat sich schon mit den Hinterlassenschaften so mancher abgewickelter Diktatur beschäftigt. Die US-Politikwissenschaftlerin erforscht das Phänomen der Übergangsjustiz – die juristische, aber auch die politische und gesellschaftliche Aufarbeitung politischer Verbrechen nach Regimewechseln. Die Führung durch die Archive der Stasi-Unterlagen-Behörde in Berlin hat sie dennoch beeindruckt. "Das hier war wirklich eine Verbindung aus sowjetischen Geheimdiensttechniken und einer Art preußischem Talent für Dokumentation und akribische Administration", urteilt die 58-Jährige, die derzeit in Kairo arbeitet, nach einem Besuch in der Normannenstraße.
"Ich habe das unwillkürlich mit dem Nationalarchiv in Ägypten verglichen, wo die Katalogisierung ein echtes Problem darstellt und wo sich nicht durchsetzen lässt, dass die Ministerien ihre Akten nach einer gewissen Zeit – wie vom Gesetz vorgesehen – dem Archiv überstellen", sagt Barsalou. "Dadurch war es selbst vor der Revolution schwierig, dort Informationen zu finden oder Zugang zu ihnen zu bekommen."
Ägypten steht bei der Aufarbeitung seiner Stasi-Unterlagen - allein technisch betrachtet - vor ganz anderen Herausforderungen als Deutschland, wo nach der Wiedervereinigung ein in Teilen fertig erschlossenes Archiv übergeben wurde.
Sturm auf Ägyptens Stasi-Zentralen
Im Gedächtnis haften geblieben sind die Bilder vom 5. und 6. März 2011, die so sehr an die Ereignisse in der untergehenden DDR im Januar 1990 erinnern: Keine vier Wochen nach dem Sturz Hosni Mubaraks stürmten in Kairo, Alexandria und anderen Städten Tausende Menschen die Büros der ägyptischen Staatssicherheit, um die Vernichtung von Geheimdienstakten zu verhindern und so potenzielle Beweise für jahrzehntelange Bespitzelung und Folter zu sichern.
Erreicht haben die Demonstranten aus heutiger Sicht wenig. Nach dem Sturm auf die Stasi-Büros hätten Bürger die Akten zwar teils "bündel- und kartonweise" herausgetragen, so der deutsche Journalist Philipp Spalek. Doch danach verliere sich ihre Spur: Einige Demonstranten hätten die Dokumente mit nach Hause genommen, andere später an Richter übergeben. Seitdem halte sich das Gerücht, die Richter hätten die Akten der Armee ausgehändigt.
Ohnehin, so Spaleks Beobachtung, gelte das Augenmerk bei der Aufarbeitung derzeit eher den unmittelbaren Revolutionsereignissen als den Jahren davor. So dokumentiert eine Gruppe um den Kairoer Historiker Khaled Fahmy Augenzeugenberichte von Beteiligten des Umsturzes von 2011. Er hatte sie von Anfang an dem Nationalarchiv übergeben, um sie sofort der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Doch nach über einem Jahr kämpfe Fahmy immer noch darum, dass Interessenten die Dokumente tatsächlich einsehen können, so Spalek: "Das Interesse im Archiv selbst ist da, auch in der Verwaltung. Das Problem ist: An den Schlüsselpositionen sitzt die Staatssicherheit, die kein Interesse daran hat, dass diese Akten nach außen dringen."
Mubaraks geheime Verschlusssache
Den ägyptischen Menschenrechtsanwalt Mohamed Abdelaziz treibt auch das noch völlig ungelöste Problem des Persönlichkeitsschutzes um. Diejenigen ägyptischen Stasi-Akten, die bisher zum Beispiel in Internetforen veröffentlicht wurden, seien ohne jede Verifikation publik gemacht worden und in dieser Form etwa für Gerichtsprozesse kaum zu gebrauchen. Was fehle, sei eine von Regierungseinfluss unabhängige Behörde, die über den Zugang zu den Akten wache.
Auf entsprechend großes Interesse in den arabischen Ländern stößt momentan die Arbeit der Berliner Stasi-Unterlagen-Behörde. Fast jeden Monat ist dort eine Delegation aus der arabischen Welt zu Gast. Als entscheidend am deutschen Weg der Aufarbeitung bezeichnet Behördenchef Roland Jahn, dass es gelungen sei, die Interessen von Opfern und Öffentlichkeit auszutarieren: "Das war das Erfolgsrezept in Deutschland – Rechtsstaatlichkeit plus Persönlichkeitsschutz."
Auch andere deutsche Einrichtungen unterstützen die Nordafrikaner mit ihren Erfahrungen bei der Aufarbeitung der Vergangenheit. Die Gedenkstätte in der früheren zentralen Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen etwa betreibt eine ganze Reihe von Projekten, vor allem in Tunesien.
Zumindest auf dem Papier ist der Umgang mit den Akten der Geheimpolizei in dem Maghrebstaat schon weiter gediehen als in Ägypten. Immerhin gibt es theoretisch ein (sehr restriktives) Recht zur Akteneinsicht, und man berät über ein Gesetz, das Regelungen für eine Übergangsjustiz und eine entsprechende Behörde schaffen könnte. Dennoch sind viele Akten nach wie vor nicht zugänglich, weil sie in den Archiven der Ministerien unter Verschluss gehalten werden.
"Wir müssen auch die Stimmen der Opfer hören"
Roland Jahn mahnt allerdings, auch die Bedeutung einer Behörde wie der seinen nicht zu überschätzen: Man dürfe nicht vergessen, dass die Akten lediglich die Sichtweise der Geheimpolizei reflektierten. "Wir müssen auch die Stimmen der Opfer hören." Und der Göttinger Staatsrechtler Naseef Naeem betont eine Grundregel für den Austausch mit den Revolutionsstaaten: "Man muss kommentarlos von der eigenen Erfahrung berichten." Die Menschen wollten auf keinen Fall belehrt werden, sondern müssten ihre eigenen Modelle finden.
Für viele Menschen in Tunesien und Ägypten gibt es derzeit ohnehin dringlichere Fragen als die Aufarbeitung der Diktaturen. Dazu gehören grassierende Arbeitslosigkeit und andere Wirtschaftsprobleme, aber auch handfeste politische Erwägungen. So betrachten viele Ägypter weitere Gerichtsprozesse gegen die Schergen Mubaraks oder eine Regelung für die Stasi-Akten als eher zweitrangig. Wichtiger, so fand Politologin Barsalou in einer Umfrage heraus, seien ihnen Reformen der verkrusteten Sicherheitsbehörden und der Justiz.
Der tunesische Anwalt Amenallah Derouiche mahnt dennoch, die systematische Aufarbeitung der Unterlagen der Geheimpolizei nicht zu verschleppen. "Man weiß gar nicht, welche und wie viele Akten noch in den Ministerien liegen", berichtet er.
Das Problem dabei sei, dass sie deshalb nach Belieben als politisches Druckmittel instrumentalisiert werden könnten, um politische Gegner einzuschüchtern. "Wenn wir diesen Umgang mit dem Thema nicht verhindern, werden die Akten wertlos werden und irgendwann nur noch für politische Interessen nutzbar sein", warnt Derouiche.
Christoph Dreyer
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Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de