Wie die Ähnlichkeiten der Epochenschwellen uns zum Umdenken zwingen
Als im Frühjahr die Coronakrise einschlug, fühlten sich viele Menschen, besonders in den USA, an die Zeit nach 9/11 erinnert. Gab es jenseits des schockartigen Einschnitts, den die Jahre 2001 und 2020 gleichermaßen darstellen, vielleicht tiefere Gemeinsamkeiten und Zusammenhänge? Vieles deutet darauf hin: die Unterbrechung des Flugverkehrs, der autoritäre Auftritt des Staates, die Schließung der Grenzen, die neue Intoleranz und neue Verschwörungserzählungen.
Die Einschränkungen, die uns auferlegt werden, werfen die brisante Frage auf, welche Aspekte unserer bisherigen Lebensweise auf Dauer unverzichtbar und „systemrelevant“ sind. Oder anders gesagt: Wieviel Ausnahmezustand sind wir bereit hinzunehmen, und für wie lange?
Die neue Normalität
In Ägypten gab es nach der Revolution jahrelang keine Fußballspiele, weil die Machthaber Angst vor den hochpolitisierten Fans hatten, die gewalttätige Auseinandersetzungen nicht scheuten. In Afghanistan ist das öffentliche Kulturleben wegen der Gefahr von Anschlägen schon seit langem zum Erliegen gekommen. Bei uns ist das Kulturleben wegen Corona in den virtuellen Raum abgewandert. Im Vergleich mit Corona wirkt die Epoche des Terrorismus fast wie ein Vorspiel nach dem Motto: Schlimmer geht immer.
Umso bedauerlicher ist, dass viele westliche Politiker auf das Virus mit derselben Rhetorik reagiert haben wie auf den Terror: Mit der Sprache des Krieges und der Konfrontation. Interessanterweise bildet Deutschland wie bei der Ausrufung des Irakkrieges 2003 auch in der Coronakrise eine Ausnahme, vermutlich aufgrund seiner Vergangenheit: Auf Kriegsrhetorik verzichten unsere Politiker. Zurecht. Denn mit einer Logik der Konfrontation kommt man dem Virus noch viel weniger bei als dem Terror.
Virus und Terroristen haben noch etwas gemein: die Unsichtbarkeit. So wie jeder Muslim einst als potenzieller Terrorist galt, gilt heute jeder Bürger als ein potenzieller Virusträger. So greift allmählich eine Kultur des Verdachts um sich. Nach 9/11 waren davon nur Muslime betroffen. Heute kann jeder jeden anstecken, ohne es zu merken.
Viele wehren sich dagegen, pauschal verdächtigt zu werden, was die Proteste gegen die Coronamaßnahmen befeuert. Das ist auch eine Folge davon, dass der Sündenbockmechanismus nicht mehr funktioniert. Statt sich aber davon zu verabschieden, denkt man sich Verschwörungstheorien aus, um doch wieder irgendwen beschuldigen zu können.
Misstrauen überall
Die um sich greifende Kultur des Generalverdachts und die allgemeine Verunsicherung stellen eine häufig unterschätzte psychische Belastung dar – die Muslime können davon ein Lied singen. Die Politik versucht, darauf mit Maßnahmen zu reagieren, die Kontrolle suggerieren. Welche von diesen Maßnahmen aber wirklich sinnvoll und angemessen sind, weiß aktuell niemand.
Der nach 9/11 und im Zusammenhang mit der Islam- und Einwanderungsfrage aufgekommene Rechtspopulismus gefährdet mit seinem Misstrauen gegen den Staat die effektive Eindämmung des Virus und hat zu einer Protestbewegung geführt, die in vieler Hinsicht an die rechtspopulistische und islamfeindliche Pegida-Bewegung erinnert.
Dabei ist es grundsätzlich nicht schlecht, dass die Coronamaßnahmen gründlich hinterfragt werden. Nur sollte man dies mit Argumenten tun, die auf Fakten basieren; und aus einer werte-orientierten, ethischen Grundhaltung heraus, nicht aus Ressentiment, Wut, Frust oder Hass.
Betrachten wir das, was gerade passiert, aus einer höheren, weltgeschichtlichen Perspektive, so fällt auf, dass Virus und Terror gleichermaßen eine unerwünschte Nebenfolge der Globalisierung sind. Nach 9/11 war die Antwort ein trotziges ‚Jetzt erst recht!‘: Eine weitere Beschleunigung des Wachstums, der internationalen Vernetzung und der neoliberalen wirtschaftlichen Entfesselung.
„Für die Ideologen des freien Marktes und für die Unternehmen, deren Interessen sie dienten, hatte sich nur eines verändert: Es war nun deutlich leichter für sie geworden, ihre ehrgeizigen Ziele umzusetzen“, schreibt Naomi Klein in ihrem Buch „Die Schock-Strategie“.
Globalisierung und Kolonialismus
Das Virus hat die nach 9/11 verschärfte, neoliberale Globalisierung abrupt ausgebremst. Die Chance zum Umdenken sollte diesmal genutzt werden, wenn wir weitere ähnliche Krisen vermeiden wollen. Dafür brauchen wir aber eine genaue Analyse dessen, was bei der Globalisierung falsch lief: gewiss nicht alles, aber ebenso gewiss viel zu viel.
Bei dieser Analyse kommt auch dem Kolonialismus als Vorläufer der Globalisierung eine Schlüsselrolle zu. Der Terrorismus ist ein entgleister Nachfahre der einstigen anti-kolonialen Befreiungsbewegungen, das heißt der Versuche des globalen Südens, sich von der Beeinflussung aus dem globalen Westen zu emanzipieren.
Der Kolonialismus ist hingegen der Vorläufer des heutigen Rassismus, von Antisemitismus, Islamfeindschaft und der faulen Ideologie der „Weißen Überlegenheit“. Wir müssen lernen, die Globalisierung aus dem Geist der Gleichberechtigung und Fairness zu denken. Der Export von Müll sollte ebenso ein No-Go sein wie der nie problematisierte Import hochqualifizierter Arbeitskräfte, was zu einem Brain-Drain des globalen Südens geführt hat.
Erinnern wir uns, dass die echte, biologische Viralität zugleich Motor und Hemmnis der kolonialen Eroberungen war: Einerseits fielen ihr durch ansteckende, von den Europäern eingeschleppte Krankheiten die Ureinwohner Amerikas zum Opfer, und zwar in einer Größenordnung, die man als genozidal bezeichnen kann; andererseits starben die Europäer im neu eroberten globalen Süden ihrerseits häufig an Tropenkrankheiten. Die überraschende Pointe: Diese Gefahren haben sie nicht abgehalten. Die Kolonisatoren haben das persönliche Risiko in Kauf genommen.
Aber genau hier liegt der Unterschied zu heute: Das Risiko der Globalisierung trifft in Form von Umweltkatastrophen und der Pandemie uns alle. Für die Risikobereitschaft weniger Menschen, die in der Regel reich genug sind, das Risiko abzufedern, werden alle haftbar gemacht.
Die Balance zwischen politischem Distancing und Abschottung
Virus und Terror haben noch eine weitere, unheimliche Gemeinsamkeit. Mangelhafte Partizipation und Demokratie haben den Terror in der islamischen Welt begünstigt. Bin Laden kommt aus dem Umfeld der saudischen Sahwa-(„Erweckung“-) Reformbewegung. Zum Terroristen wurde er erst, nachdem die Saudis ihn ausgebürgert hatten.
Der Umgang mit dem Virus in China – erst Zensur und Verleugnung, dann rabiate Gegenmaßnahmen – ist ebenfalls das Ergebnis eines mangelhaft legitimierten Systems, das um seine Akzeptanz fürchtet. Durch die Angst des Staates und die Zensur wurde das Virus zu lange verleugnet und seine globale Verbreitung erst ermöglicht.
Das hat aufgrund der harten Maßnahmen, die nun überall auf der Welt getroffen werden, zur Legitimationskrise auch in demokratischen Gesellschaften geführt. Sie müssen nun plötzlich genauso rabiat und autoritär reagieren wie China: Mit Lockdowns, mit Strafen für ‚Virussünder‘, mit Grenzschließungen, Reisewarnungen und Verboten.
Um diese ‚Ansteckung‘ durch falsche Politik in Zukunft zu verhindern, empfiehlt sich im Umgang mit mangelhaft legitimierten politischen Systemen eine Art zwischenstaatliches ‚social distancing‘. Das heißt wie im echten, zwischenmenschlichen social-distancing nicht, jeden Kontakt mit solchen Regimen einzustellen, sondern sich nicht von ihnen abhängig zu machen.
Kollektives Brainstorming
Es gilt vorsichtig zu sein und wirtschaftliche Verflechtungen zu vermeiden, die zur Falle werden können. Konkret: Zwar dürfen wir arabisches Öl, russisches Gas und chinesische Technik kaufen – aber nur in engen Grenzen, das heißt immer nur so, dass dieser Import nicht systemrelevant wird.
Schließlich ist auffällig, dass der Nationalismus, dessen Wiedererstarken mit 9/11 und dem dadurch befeuerten islamfeindlichen Populismus begonnen hat, in der Coronakrise zur Leitgröße staatlichen Handelns wird: Zu Beginn der Pandemie wurden alle Grenzen geschlossen. Gegenwärtig werden viele andere Länder, und seien es die europäischen Nachbarstaaten, zu Risikogebieten erklärt.
Es gab und gibt viel zu wenig internationale Solidarität und Absprachen. Die Flüchtlingskrise findet keine Aufmerksamkeit mehr. Oder nur, wenn sie die Lager abbrennen – aber kann man ihnen diesen Hilfeschrei verübeln? Die Bewältigung der Pandemie wird nach wie vor als nationale Aufgabe begriffen. Das Coronavirus droht, ein noch schlimmeres Virus zu gebären: das der Abschottung.
Virus und Terror sind ein Prisma. Sie zerlegen unsere Gesellschaften in ihre Spektralfarben und zeigen uns, wer wir sind. Aus welchen Elementen wir bestehen. Wie die Hardware unter unseren schönen, aber trügerischen Benutzeroberflächen wirklich funktioniert. Welche Prioritäten wir setzen, wenn die Zeit von Rhetorik und Wunschdenken vorbei ist.
Es ist ein wenig zu einfach und zu billig, den Regierungen vorzuwerfen, dass sie von der Pandemie überrumpelt und überfordert waren. Aber mehr als ein halbes Jahr nach Beginn der Pandemie brauchen wir dringend ein kollektives Brainstorming. Keine Demonstrationen von Leuten, die beleidigt, sind, weil sie Masken tragen müssen, sondern viel mehr Gespräche, Debatten, Vertiefungen. Nur so, mit Hilfe intensiver Kommunikation, können wir die Komplexität und die Herausforderungen unserer Zeit wirklich erfassen, vermitteln, verständlich machen. Und nur, wenn wir verstehen, was dazu führte, und wenn wir unsere bisherigen Weltanschauungen hinterfragen, werden wir bereit sein, uns auf das Kommende einzulassen. Das wird nicht leicht sein.
Stefan Weidner
© Qantara.de 2020
Stefan Weidner ist Autor und Islamwissenschaftler. Im Januar 2021 erscheint sein Buch „Ground Zero. 9/11 und die Geburt der Gegenwart“ (Hanser Verlag). Weitere Überlegungen zu Virus und Terror gibt es auch als Podcast.