Nationalisten im Aufwind

Erdogan ist es zuzutrauen, aus der Stichwahl als Sieger hervorzugehen. Weder sein Umgang mit dem Erdbeben noch die desaströse Wirtschaftslage scheinen ihm bei den Wahlen zu schaden, meint Erkan Arikan.

Von Erkan Arikan

Nach über 20 Jahren Herrschaft von Recep Tayyip Erdogan und seiner AKP-Regierung schien der Machtwechsel zugunsten der Opposition wahrscheinlicher denn je. Aber erstens kommt alles anders und zweitens als man denkt. Wer der kommende Präsident der Türkischen Republik wird, entscheidet sich im zweiten Wahlgang.

Erdogan herrscht immer autokratischer in der Türkei. Doch sein Image bröckelt. Grund ist die marode Wirtschaftslage, die zu einer verständlichen Unzufriedenheit in der Bevölkerung führt. Doch die Opposition hat es nicht geschafft, im ersten Wahlgang die Mehrheit zu erreichen, um den Präsidenten zu stellen. In 14 Tagen kommt es nun zum Showdown zwischen Erdogan und seinem Herausforderer Kemal Kilicdaroglu.

"Wahlverlierer ist Kilicdaroglu"

Es ist weit nach Mitternacht. Vor der Parteizentrale der AKP haben sich schon seit dem frühen Abend Anhänger von Präsident Erdogan eingefunden und stimmen sich für einen künftigen Wahlsieg ihren "Reis", ihres "Kapitäns" ein. Doch der lässt auf sich warten. Noch immer gibt es kein valides Ergebnis. Wer liegt in Führung? Wer wird der neue Präsident? Und immer wieder dröhnt über die monströsen Lautsprecher ein Lied: "Recep Tayyip Erdogan, Recep Tayyip Erdogan - unser Präsident!".

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan; Foto: Aytav Unal/AA/picture-alliance
Noch nicht geschlagen:

Wenn man den Meinungsforschungsinstituten im Vorfeld gefolgt wäre, hätte der Oppositionskandidat Kemal Kilicdaroglu Erdogan am Sonntag schlagen müssen. "Glaube keinem Meinungsforschungsinstitut", sagt mir unser Fahrer Sedat, der uns nach ein Uhr nachts von der AKP-Zentrale ins Hotel fährt. "Keiner sagt bei diesen Firmen die Wahrheit. Im zweiten Wahlgang wird Erdogan wohl wieder gewinnen. Kilicdaroglu ist der Wahlverlierer", sagt er mit einer großen Enttäuschung im Gesicht. "Unsere Leute haben doch Angst, ehrlich zu sagen, wen sie wählen, weil am nächsten Tag die Polizei vor der Tür stehen könnte."

Natürlich stellen sich jetzt alle die Frage, wie es zu diesem Ergebnis kommen konnte. Der geringe Stimmenanteil der nationalistisch geprägten IYI Partei konnte den Kandidaten Kilicdaroglu nicht unterstützen. Des Weiteren blieb die prokurdische HDP unter 10 Prozent.

Dies könnte auch daran liegen, dass sie, anders als bei den letzten Wahlen, keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten stellte. Dies führte dann dazu, dass nicht alle ihre Unterstützer zur Wahl gingen, das heißt eine Mobilisierung konnte nicht umgesetzt werden. Auch die offene Unterstützung der HDP für Kilicdaroglu passte vielen Kurden nicht.

Nationalisten und Ultranationalisten liegen vorne

Der Wahlkampf, der auch auf dem Rücken der syrischen Flüchtlinge in der Türkei ausgetragen wurde, spülte die Stimmen ins Lager der Nationalisten. Ausnahmslos alle hatten diese Gruppe eher im unteren Prozent- oder gar im Promillebereich gesehen. Doch Sinan Ogan, der nationalistische Präsidentschaftskandidat erhielt über 5 Prozent. Die in Umfragen bei 7 Prozent dahin dümpelnde ultranationalistische MHP kam auf über 10 Prozent.

Fahne mit dem Konterfei von Kemal Kilicdaroglu wird im Wahlkampf hochgehalten; Foto: AP Photo/picture-alliance
Wahlverlierer Kilicdaroglu: "Wenn man den Meinungsforschungsinstituten im Vorfeld gefolgt wäre, hätte der Oppositionskandidat Kemal Kilicdaroglu Erdogan am Sonntag schlagen müssen," schreibt Erkan Arikan. "Natürlich stellen sich jetzt alle die Frage, wie es zu diesem Ergebnis kommen konnte. Der geringe Stimmenanteil der nationalistisch geprägten IYI Partei konnte den Kandidaten Kilicdaroglu nicht unterstützen. Des Weiteren blieb die prokurdische HDP unter 10 Prozent. Dies könnte auch daran liegen, dass sie, anders als bei den letzten Wahlen, keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten stellte. Dies führte dann dazu, dass nicht alle ihre Unterstützer zur Wahl gingen, das heißt eine Mobilisierung konnte nicht umgesetzt werden. Auch die offene Unterstützung der HDP für Kilicdaroglu passte vielen Kurden nicht."



Die eindeutige Positionierung, möglichst viele Flüchtlinge wieder in ihre Heimatländer zurückzuschicken, kam bei den Wahlberechtigten in der Türkei an. Doch nicht nur das. Im Wahlkampf war eines besonders häufig zu beobachten - es herrschte gerade im Lager von Präsident Erdogan eine Sprache der Gewalt, der Drohungen und der Angriffe.



Wenn Erdogan eines beherrscht, dann ist es die Dämonisierung seiner politischen Gegner. Kilicdaroglu würde seine Anweisungen von der PKK erhalten. Er hingegen sei anders: "Wir nehmen Befehle nur vom Herrn und unserem Volk entgegen!", schrie Erdogan um zwei Uhr morgens nach der Wahl vom Balkon seiner Parteizentrale ins Mikrofon. Und bei Wahlkampfveranstaltungen war vom Präsidenten zu hören: "Glaubt eher einem Mann der gottesfürchtig ist, als einem Trunkenbold."

Erdbeben und Wirtschaft waren keine Faktoren

Kurz nach dem verheerenden Erbeben im Februar dieses Jahres, bei dem allein in der Türkei über 51.000 Menschen ihr Leben verloren, dachten alle, dass Erdogan mit seinem miserablem Krisenmanagement in den AKP-Hochburgen, die im Epizentrum der Beben liegen, einen Denkzettel bekommen würde. Doch es kam auch hier anders.

Die AKP und Erdogan verbuchten in den Gebieten keine nennenswerten Verluste, sondern büßten nur knapp zwei Prozentpunkte ein. Doch diese Verluste nutzten dem Oppositionskandidaten Kilicdaroglu nicht – hier profitierte der Nationalist Sinan Ogan.

Sprechchöre vor der AKP-Zentrale; Foto: Kivanc El/DW
Sprechchöre für Erdogan: Vor der Parteizentrale der AKP haben sich schon seit dem frühen Abend des Wahltages Anhänger von Präsident Erdogan eingefunden und stimmen sich für einen künftigen Wahlsieg ihren "Reis", ihres "Kapitäns" ein. Doch der lässt auf sich warten. Noch immer gibt es kein valides Ergebnis. Wer liegt in Führung? Wer wird der neue Präsident? Und immer wieder dröhnt über die monströsen Lautsprecher ein Lied: "Recep Tayyip Erdogan, Recep Tayyip Erdogan - unser Präsident!".



Auch die desaströse Wirtschaftslage mit einer extrem hohen Inflation, einer noch höheren Arbeitslosigkeit und einem massiven Braindrain junger Universitätsabsolventen schadete Erdogan nicht. Scheinbar glauben viele, dass der amtierende Präsident das Ruder wieder herumreißen und die Türkei wirtschaftlich wieder ins richtige Fahrwasser bringen kann.

In dem kommenden 14 Tagen richten sich die Augen nun auf den Nationalisten Sinan Ogan. Der frühere Abgeordnete der rechtsnationalistischen MHP ist von seiner Denke und seiner Ideologie eher der "Republikanischen Allianz" von Erdogan zu zurechnen. Ogan hat nun alle Trümpfe in der Hand. Mit seinen über 5 Prozent könnte er sich nun zurücklehnen und warten, welche Angebote ihm das Regierungs- und Oppositionslager machen. Denn beide Koalitionen wissen, dass kein Weg an Ogan vorbei führt.

Auch wenn der rechtsnationale Ogan in der Vergangenheit oft gegen Erdogan gewettert hat, heißt es nicht, dass Kilicdaroglu sich der Unterstützung Ogans sicher sein kann. Wie gesagt: Erstens kommt es immer anders, zweitens als man denkt.

Erkan Arikan

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