Generation Z: Das Zünglein an der Waage?
Mit fahnenwehenden Wahlveranstaltungen der verschiedenen Parteienkoalitionen, begleitet von TV-Sendungen, die über einen möglichen Ausgang der Wahl spekulieren, bereitet sich die Türkei auf die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vor, die im Land wie international als historisch betrachtet werden. Sollte Muharrem İnce, oder viel wahrscheinlicher, Kemal Kılıçdaroğlu, hinter dem sich der oppositionelle "Sechser Tisch“ zusammengeschlossen hat, gewinnen, hätte das Volk Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und seine AKP nach 21 Jahren Herrschaft abgewählt.
Dabei stellt sich das Land schon seit längerer Zeit die Frage: Wo stehen die jungen Leute, die sogenannte Generation Z, politisch? Jene "religiöse Generation?“, die Erdoğan gerne hätte heranwachsen sehen. Denn diese um das Jahr 2000 herum geborenen Menschen machen rund 13 Millionen der über 64 Millionen Wahlberechtigten aus. Das sind nicht zu unterschätzende 20 Prozent der Wählerinnen und Wähler. Über sechs Millionen von ihnen sind zudem Erstwähler.
"Ist das ein Wendepunkt oder müssen wir weg?“
Eine, die die Wahlen aufgeregt erwartet, ist Zeynep. Sie ist 23 Jahre alt und studiert Schauspiel an der Universität Eskişehir. "Diese Wahlen sind für uns lebenswichtig“, erzählt sie. "Meine Freunde und ich sagen immer: Entweder die Wahlen sind ein Wendepunkt oder wir müssen das Land verlassen, auch wenn wir das nicht wollen.“
Zeynep ist eine von vielen, die in ihrem Leben nie eine andere Regierung als Erdoğans AKP erlebt haben und der Überzeugung sind, dass sich die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen unbedingt verändern müssen. Besonders als Schauspielerin sei es ihr in der derzeitigen Situation so gut wie unmöglich, ihr Leben zu bestreiten. "Ich bin erst 23, aber ich bin so erschöpft“, fügt sie hinzu und spricht damit für eine ganze Generation.
Den Umfragen zufolge liefern sich die beiden Präsidentschaftskandidaten Erdoğan und Kılıçdaroğlu ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Wie die Wahl ausgehen wird, kann niemand voraussagen. "Mal sind wir voller Hoffnung, dann wieder niedergeschlagen“, sagt Zeynep. "Aber niemand kann es sich leisten, apolitisch zu sein. Denn wir haben das Gefühl, wir sind die einzigen, die etwas ändern können.“
Das Hauptproblem des Landes liegt für Zeynep im Bildungsbereich. "Die Menschen werden so kleingehalten, dass sie nicht einmal merken, ob man ihnen etwas Gutes oder Schlechtes tut. Sie sollen dankbar sein und sich mit einem Minimum zufriedengeben. Mit einer guten Bildung sowohl bei den Wähler als auch bei den Gewählten wären wir nicht an dem Punkt, an dem wir heute stehen.“
Für ihre Zukunft wünscht sie sich, dass sie in ihrem Land bleiben und die Menschen mit ihrem Schauspiel berühren kann. "Ich möchte eine Zukunft, in der die Menschen, die heute kein Geld haben, um ein Brot zu kaufen, sich darüber unterhalten können, ob sie am Abend lieber ins Theater oder ins Kino gehen“, sagt sie.
"Wir stehen unter großem psychischem Druck“
Dass die Menschen jeden Cent umdrehen müssen und von Laden zu Laden gehen, um Preise zu vergleichen, weiß auch Kenan. Er ist 20 Jahre alt, lebt in Ankara und arbeitet in einem Supermarkt. Er will Geld sparen, um eine Ausbildung als Koch zu machen. Am 14. Mai wird er zum ersten Mal wählen. Doch er ist besorgt. Es könnte zu Unruhen kommen, sollte die AKP abgewählt werden, denkt er.
Generell ist er, wie viele andere in seinem Alter, wenig optimistisch. "Ich glaube, es bleibt alles beim Alten. Und selbst wenn Kılıçdaroğlu gewinnt, wird sich nicht viel ändern, zum Beispiel in der Wirtschaft. Die Türkei wird 20 Jahre brauchen, um sich von all dem zu erholen“, sagt er.
Die desolate wirtschaftliche Situation ist für ihn eines der Hauptprobleme. "Wir möchten nicht darüber nachdenken müssen, ob wir es uns leisten können zu studieren oder eine Ausbildung zu machen. Wir wollen nicht nach der Schule noch Teilzeit arbeiten müssen, um unsere Familien zu unterstützen.“ Ein anderes großes Problem, sagt er, sei die Einschränkung der Meinungsfreiheit.
"Wir möchten über alles reden können. Im Moment darf man nichts über unseren Staatspräsidenten sagen. Wir stehen unter sehr großem psychischem Druck.“ Zudem habe die Polarisierung, die Feindlichkeit, in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Als Kurde, sagt Kenan, spüre er das am eigenen Leib. "Die Situation ist so wie nach dem Militärputsch 1980, nur noch schlimmer. Heute sind Kino, Essen und alles andere auch noch viel zu teuer.“ Für die Zukunft, sagt er, wünsche er sich ein angenehmes Leben, allgemein bessere Bedingungen, eine bezahlbare Wohnung, eine Anhebung des Mindestlohns und eine gestiegene Kaufkraft.
"Keine Wertschätzung für junge Menschen“
Wie schwer es ist, in der Türkei inmitten der globalen und nationalen Probleme jung zu sein, weiß auch die Generationenforscherin und Publizistin Evrim Kuran. "Junge Menschen in der Türkei ringen mit der Arbeitslosigkeit und der daraus resultierenden Visionslosigkeit, sie plagen sich mit dem Problem, trotz ihrer Qualifikationen viele Positionen nicht erreichen zu können, mit Diskriminierung, Gewalt gegen Frauen, aber auch mit neuen Ungleichheiten, die durch die Pandemie entstanden sind, mit einer Ausweglosigkeit, die durch das Erdbeben verstärkt wurde, kurz: Sie ringen mit Sorgen um die Zukunft“
Diesen Sorgen läge das Fehlen von Gerechtigkeit und Gleichheit zugrunde und das damit verbundene Problem mit der beruflichen Qualifikation. "In unserem Land gilt im öffentlichen wie im privaten Sektor: Was zählt, ist nicht Qualifikation, sondern Loyalität, ob man jemanden kennt, ob man Beziehungen hat.“ Diese Chancenungleichheit, sagt sie, dränge die jungen Menschen aus dem Land.
Das bestätigen auch verschiedene Erhebungen, die in der Vergangenheit die Generation Z unter die Lupe genommen haben. Die Ergebnisse zeichneten das Bild einer von Hoffnungslosigkeit geprägten Generation, die angibt, das Land verlassen zu wollen, sobald sich die Möglichkeit dazu bietet. Auf politischer Ebene gaben die Befragten an, alte ideologische Kategorien wie "Atatürkisten, Nationalisten, Konservative“ abzulehnen und sich von den bestehenden Parteien nicht repräsentiert zu fühlen.
"Junge Menschen fordern Fairness“
Dennoch will Umfragen zufolge ein Großteil der unter 30-Jährigen wählen gehen. "Immer wenn Wahlen sind, erinnert sich die Türkei daran, dass sie ein junges Land ist“, so die Generationenforscherin. "Das ändert aber nichts daran, dass wir ein Land sind, das seine jungen Menschen nicht wertschätzt.“ Bis heute habe sie weder bei der Regierung noch bei der Opposition ein Führungsverständnis erlebt, das die jungen Leute richtig liest. Der Ausweg aus ihrer Hoffnungslosigkeit sei, ihnen deutlich zu machen, dass in einer Demokratie die Herrschaft beim Volk liegt und dass es Recht und Aufgabe eines aktiven Staatsbürgers ist zu wählen.
Zudem fordere die Generation eine authentische, aufrichtige Sprache, die nicht polarisiert, sondern vereint – wie besonders von Kılıçdaroğlu gepflegt – im Gegensatz zur destruktiven, diskriminierenden, veralteten Rhetorik der Politik Erdogans, die sie entschieden ablehnt. Zu den Werten, die die Millennials verschiedener Lager teilen, fand Evrim Kuran heraus, gehören Fairness und Gerechtigkeit.
Diese jungen Menschen, die eine einzelne Definition ihrer Identität ablehnen und einen realistischen und pragmatischen Blick auf die Welt haben, sagt sie, bräuchten vor allem ein Klima der Sicherheit. Und Hoffnung für die Zukunft – wie sie alle jungen Menschen haben sollten.
Ceyda Nurtsch
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