„Trümmer sind kein Abfall“

Syrien hat in den letzten 14 Jahren unter einem zerstörerischen Krieg gelitten. Es war kein klassischer Bürgerkrieg, sondern eine friedliche Revolution gegen Unterdrückung. Jede Familie hat unter dem Assad-Regime gelitten. Mein Neffe zum Beispiel wurde von den Assad-Milizen kaltblütig ermordet, seine Leiche verbrannt – nur weil er friedlich gegen das Regime demonstriert hatte.
Auch die Gebäude und Städte Syriens haben gelitten. Jede Region, die sich der Kontrolle des Regimes entzog, wurde sofort bombardiert. Eine genaue Statistik über das Ausmaß der Zerstörung gibt es bis heute nicht. Bis 2017 waren einer Schätzung der Weltbank zufolge fast dreißig Prozent aller Gebäude in Syrien ganz oder teilweise zerstört worden. Dabei handelt es sich nicht um verstreute Gebäude, sondern um ganze Viertel und Städte.
In Homs etwa wurden vierzig bis fünfzig Prozent der Stadt vollständig zerstört, darunter bekannte Viertel wie Chalidija oder Baba Amr. In Damaskus traf es zum Beispiel das Viertel Dschobar, dessen Trümmer durch Bilder vom Besuch der ehemaligen Außenministerin Annalena Baerbock auch in Deutschland bekannt wurden. Ähnlich zerstört sind weitere Damaszener Vororte wie Ost- und West-Ghuta, Daraja, Muaddamija, Hadschar al-Aswad und Jarmuk.
Jetzt braucht es internationale Unterstützung
Bis zu seinem Sturz hat das Assad-Regime den Zugang zu zerstörten Gebieten blockiert – auch für Wissenschaftler. Ich durfte, selbst nachdem ich 2018 ein Patent zur Wiederverwertung von Beton und zur Verbesserung seiner Eigenschaften erhielt, keine der zerstörten Städte und Regionen besuchen.
In vielen Fällen konnten auch die geflohenen Bewohner sich erst nach dem Ende des Regimes ein Bild von der Lage in ihren ehemaligen Wohnorten machen. Aus Gebieten, die nicht vom Regime kontrolliert wurden, gab es dagegen einige Berichte über die Zerstörung. Nach der Beruhigung der Kämpfe ab 2018 hörten wir von ersten Wiederaufbauversuchen, doch diese blieben begrenzt.

Nun, nach dem Fall des Regimes, braucht es internationale Unterstützung für den anstehenden Wiederaufbau im ganzen Land. Dafür haben wir im April am Innovationszentrum Bau in Weimar, an dem ich seit Anfang dieses Jahres arbeite, mit Kollegen vom Institut für Angewandte Bauforschung Weimar (IAB) der Materialforschungs- und -prüfanstalt (MFPA) sowie der Bauhaus-Universität Weimar einen internationalen Workshop organisiert.
Unterstützt vom Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und der Landesentwicklungsgesellschaft Thüringen fand die Veranstaltung mit dem Titel „Recycling und Wiederaufbau – Bauweisen und Baumaterialien für ein Nachkriegs-Syrien“ in Weimar als Hauptstadt des Bauens statt.
Einige führende deutsche Bauunternehmen nahmen teil; aus verschiedenen Städten Deutschlands reisten Syrerinnen und Syrer an, aus Damaskus Vertreter der dortigen Regierung sowie der Präsident der Ingenieurskammer. Dass sie da waren, ist ein klares Zeichen für das immense Interesse, das Syrien an deutscher Unterstützung beim Wiederaufbau hat.
Die Rolle Deutschlands
Syrien braucht deutsche Technologie, unter anderem weil Deutschland enorme Erfahrung mit Wiederaufbaumaßnahmen hat. Die deutsche Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg ist weltweit ein Vorbild. Der große Anteil syrischer Arbeitskräfte auf dem deutschen Arbeitsmarkt schafft zusätzliches Vertrauen für die Zusammenarbeit.
Wir dürfen nicht vergessen, dass Deutschland über eine Million syrische Geflüchtete aufgenommen hat – ich bin einer von ihnen. Ich bin heute als leitender Forscher am Weimar-Institut tätig und schäme mich nicht dafür, geflüchtet zu sein. Vom syrischen Regime habe ich mich losgesagt, nachdem es meiner Familie und dem syrischen Volk Unrecht angetan hatte.

Al-Scharaa muss aus den Fehlern der Assad-Ära lernen
Syrien steht vor immensen Herausforderungen: einer instabilen Währung, Versorgungsengpässen und steigenden Lebenshaltungskosten. Derweil setzt die Übergangsregierung Assads neoliberale Politik fort. Ein echter Aufschwung erfordert einen neuen Ansatz.
Unser Workshop in Weimar hatte das Ziel, eine Art Kompass für den Wiederaufbau Syriens zu etablieren. Das Ergebnis: Mein Team und ich dürfen parallel an zwei Pilotprojekten arbeiten: eines im symbolträchtigen Viertel Dschobar in Damaskus und eines weiteren im Stadtteil Baba Amr in Homs, dem Herzen der Revolution.
Die Vertreterinnen und Vertreter deutscher Unternehmen, die in Weimar dabei waren, zeigten großes Interesse, daran mitzuwirken. Mittlerweile bereiten wir mit der syrischen Regierung einen Besuch dieser Firmen vor Ort vor.
Auf deutscher Seite hat das BMZ und die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) eine Plattform zum Wiederaufbau Syriens geschaffen. Darüber hinaus bin ich mit UN-Organisationen und Vertretern in anderen Ländern im Gespräch, um möglichst viele Kräfte für einen Neustart zu mobilisieren.
Recycling spart Geld und schont das Klima
In Weimar forsche ich in einer etwa 650 Quadratmeter großen Werkhalle an der technischen Umsetzung: der Wiederverwertung von Baumaterialien. Mein Pilotkonzept zur Wiederaufbauplanung sieht eine moderne Vermessung der betroffenen Gebiete vor und den Bau eines kleinen Wohnviertels aus recyceltem Baumaterial.
Wenn wir vorhandenes Trümmermaterial verwenden, brauchen wir keine neuen Baustoffe. Das spart Geld und ist umweltfreundlicher. Sollte es uns tatsächlich gelingen, neue Ressourcen nur im Notfall zu nutzen, können die enormen Kosten des Wiederaufbaus deutlich gesenkt werden. Wie hoch diese tatsächlich sein werden, lässt sich nur schwer beziffern. Manche Schätzungen gehen derzeit sogar von einer Billion US-Dollar oder mehr aus.
Angesichts der Zerstörung sind manche pessimistisch. Aber als Fachmann sage ich: Die Trümmer sind keine Abfälle – sie sind Rohstoffe. Die teilweise zerstörten Gebäude müssen mit speziellen Maschinen abgetragen, die Materialien (Beton, Ziegel, Gips, Metall, Bewehrungsstahl und andere) sortiert und wiederverwertet werden.
Mir ist bewusst, dass unter manchen Ruinen womöglich noch nicht explodierte Sprengkörper oder auch Leichen und Massengräber liegen. Um damit verantwortungsvoll umgehen zu können, müssen wir mit internationalen und lokalen Organisationen zusammenarbeiten.
Der Wiederaufbau muss inklusiv sein
Was mir Sorgen bereitet, ist das Problem der Eigentumsrechte. In den zerstörten Gebieten ist oft nicht mehr klar nachzuvollziehen, wo Grenzen zwischen Grundstücken genau verlaufen; Grundbücher wurden womöglich vernichtet. Zusätzlich erschwert wird die Lage dadurch, dass viele Menschen ihre Häuser verlassen haben, einige gar nicht mehr in Syrien sind und andere nun in deren ehemaligen Wohnungen leben.
Wir prüfen derzeit, welche Erfahrungen in anderen Ländern wie im Kosovo, in Ruanda oder Deutschland damit gemacht wurden. Die Lösung muss nicht perfekt sein, aber praktikabel. Privat bauen einige Menschen bereits einzelne Häuser wieder auf. Vielen bleibt auch nichts anderes übrig. Viele Rückkehrende aus dem Ausland oder Menschen, die lange in Zelten gelebt haben, müssen sich ein Dach über dem Kopf organisieren. Die Regierung sollte diese Bemühungen unterstützen.

Nach mehr als einem Jahrzehnt Konflikt geht der Wiederaufbau Syriens über die physische Infrastruktur hinaus – er erfordert die Heilung tiefer gesellschaftlicher Brüche. Inklusive Regierungsführung ist dabei unerlässlich, um sicherzustellen, dass der Wiederaufbau allen Syrern zugutekommt und ein erneuter Konflikt verhindert wird.
Alle gesellschaftlichen Gruppen – einschließlich ethnischer und religiöser Minderheiten, Frauen und Jugendlicher – sollten bei der Gestaltung der politischen Zukunft Syriens mitreden. Mein besonderes Anliegen im Rahmen des Projekts ist es auch, Arbeitsplätze zu schaffen.
Laut offiziellen Angaben leben über neunzig Prozent der syrischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Sobald die Baubranche wieder anläuft, werden auch neue Arbeitsplätze entstehen.
Positive Signale
Der Blick in die Zukunft ist hoffnungsvoller geworden. In unserem Workshop im April 2025 hatten die Regierungsvertreter aus Damaskus vor allem die US-Sanktionen beklagt, durch die Syrien unter anderem vom internationalen Zahlungssystem SWIFT ausgeschlossen wurde. Inzwischen hat US-Präsident Trump sie aufgehoben. Nun ist der Weg frei.
Ein Treffen mit Vertreterinnen und Vertretern der GIZ steht an, um die beiden Pilotprojekte und weitere Projekte mit Syrienbezug zu besprechen. Gleichzeitig stimmen wir uns mit der syrischen Regierung ab, die unsere Vorschläge bisher offen aufnimmt. Mit der Normungsbehörde in Damaskus erarbeite ich neue Baustandards, die Recycling und moderne Technologien miteinbeziehen.
Die Sicherheitslage in Syrien ist nach wie vor heikel, aber wir hoffen auf Besserung. Wir Syrer haben mehr als ein halbes Jahrhundert Unterdrückung erlebt. Nun brauchen wir Geduld, müssen unsere Kräfte bündeln und an einem Strang ziehen.
Im besten Fall gelingt uns in den nächsten Jahren ein umfassender, international koordinierter Wiederaufbau. Erste Signale, die darauf hindeuten, gibt es. Mithilfe der internationalen Gemeinschaft kann das syrische Volk aus den Trümmern auferstehen und sich eine neue Zukunft aufbauen.
Protokolliert von Clara Taxis und Mohammed Magdy.
Dieser Text ist auch in einer gemeinsamen Ausgabe von Qantara und dem Magazin Kulturaustausch erschienen. Weitere Analysen, Interviews und Reportagen finden Sie hier sowie in unserem Syrien-Schwerpunkt.
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