Gehasst, gefürchtet, missverstanden

Der Terror hat den Graben zwischen Christen und Muslimen vertieft – doch der Dialog ist seither ehrlicher. Ein Rückblick von Matthias Drobinski

Dossier von Matthias Drobinski

Ausgerechnet die Reisetasche entging am 11. September 2001 dem Inferno. Gefunden wurde sie im Bostoner Logan Airport, aufgegeben hatte sie Mohammed Atta, jener Mann, der die Boeing 757 des American-Airlines-Fluges 11 um 8.46 Uhr in den Nordturm des World Trade Centers in New York steuerte. Durch Zufall war sie nicht in der Todesmaschine.

In dieser Tasche fand man ein schreibmaschinengeschriebenes Testament. "Ich glaube, dass Mohammed Gottes Gesandter ist, und habe nicht den geringsten Zweifel, dass die Zeit kommen wird, da Gott alle Menschen aus ihren Gräbern wiederauferstehen lässt", hat der junge Mann im Jahr 1996 geschrieben. Frauen sollten seiner Beerdigung fernbleiben; der Mann, der seinen Leichnam wäscht, soll Handschuhe tragen, damit er die Genitalien des Toten nicht berührt.

Mohammed Atta; Foto: AP
Terror und Selbstmord im Namen Gottes: Mohammed Atta

​​Mohammed Atta hielt sich für einen guten und frommen Muslim. Er dürfte in der Überzeugung gestorben sein, dass es nichts Höheres für einen Gläubigen gibt, als im Namen Gottes sein Leben zu geben – und im Namen Gottes auch Menschen zu töten, die durch ihre Lebensweise den Allmächtigen lästern.

Die unheimliche Seite der Religion

Der Terror und der Suizid waren für ihn die wahre Form des Gottesdienstes. Nach all den Kriegen und Hinrichtungen und Folterungen, die im Namen Gottes geschehen waren, nahm das Abgründige des Religiösen an jenem Dienstag im September seine jüngste, modernste Gestalt an.

Man kann mit gutem Grund sagen, dass Terror nie im Namen Gottes geschieht und jeden Gott lästert, dem zu dienen er vorgibt. Egal, ob nun Atta eine Boeing in ein Hochhaus lenkt oder der Norweger Anders Behring Breivik auf einer Insel junge Menschen erschießt, weil er sich als Retter des Christentums wähnt.

Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Die Wahrheit ist auch, dass der eine Gott, an den Juden, Christen, Muslime glauben, zwar die Menschen zu größter Menschlichkeit bringen kann, in seiner Eifersucht auf die fremden Götter aber auch zu größter Grausamkeit.

Am 11. September offenbarte sich die grausame, gewalttätige, unheimliche Seite der Religion, zum Entsetzen der Europäer und Nordamerikaner. Doch in den islamisch geprägten Teilen der Welt war dieser Abgrund der Religion nur allzu bekannt. Bis heute sind mehr Muslime durch den Terror von Muslimen gestorben als Christen, was in der Logik religiös motivierter Gewalt liegt: Der Verräter des eigenen Glaubens ist noch schlimmer als der Feind von außen.

Der Islam im Fokus

Die Anschläge vom 11. September haben die Religion in den Fokus der Aufmerksamkeit im Westen gerückt, in einem scheinbar säkularisierten Westen. Das Christentum war dort gezähmt durch die Aufklärung. Es war Lebenshilfe für den Einzelnen und soziale Schmiere für die Gemeinschaft geworden; wer anders oder gar nicht glaubte, brauchte nicht mehr den Zorn irgendwelcher Kirchenoberen zu fürchten.

Das World Trade Center nach dem islamistischen Anschlag im Jahr 1993; Foto: AP
Historische Zielscheibe radikaler Islamisten: Hinter dem Anschlag vom 26. Februar 1993 auf das World Trade Center steckte der Ägypter Scheich Omar Abd el-Rahman.

​​Und da war er auf einmal, der Islam. Bislang war er im Westen eine Angelegenheit der Wissenschaftler und Orient-Reisenden gewesen, der kirchlichen Dialog- und der kommunalen Integrationsbeauftragten. Er hatte sich in den Hinterhöfen Europas versteckt und in den Städten Amerikas, war von den dortigen Mehrheiten als Hintergrund der allgemeinen Rückständigkeit und Gewaltbereitschaft der Araber, Nordafrikaner und des Nahen Ostens wahrgenommen worden.

Plötzlich war er sichtbar, grell beleuchtet vom Feuerschein der explodierenden Flugzeuge – mit seinen strengen Regeln und der Vermischung von Religion und Politik. Mit den kriegerischen Passagen im Koran und dem mittelalterlichen Rechtssystem der Scharia, der theologischen Starre, der Ideologie der islamischen Weltgemeinschaft, vereint im Hass auf den Westen.

Zwölf Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts schien der Westen, schienen Freiheit, Demokratie und Pluralismus erneut bedroht. Der Nahostkonflikt, die Nord-Süd-Auseinandersetzungen wurden zu Auseinandersetzungen mit dem Islam, aus der Integrations- die Islamdebatte. Die Religion war zurückgekehrt in die Konflikte der Welt.

Dieser Prozess hatte bereits vor dem 11. September 2001 begonnen – wie so vieles schon begonnen hatte, was nun als unmittelbare Folge des Terrors von New York und Washington verstanden wird. Schon in den sechziger Jahren hatte Ayatollah Chomeini das Schah-Regime und den mit dem Schah verbundenen Westen als anti-islamisch gebrandmarkt, im Unterschied zur linken und liberalen Opposition.

Großer Satan, kleiner Satan

1979, als Sieger der iranischen Revolution, erklärte er die USA zum großen und Israel zum kleinen Satan. 1988 nannte die Charta der einstigen Wohltätigkeitsorganisation Hamas es als Ziel, "die Fahne Allahs über jedem Zoll Palästinas aufzuziehen", im Gegensatz zur säkular-nationalen Ideologie der PLO.

1998 unterzeichnete Osama bin Laden das Manifest für eine "Internationale Front für einen Dschihad gegen die Juden und Kreuzfahrer". Jeder Muslim müsse die Feinde des Islams an jeder Stelle mit jedem Mittel bekämpfen, Selbstmordattentate eingeschlossen, forderte bin Ladens Mitstreiter, der ägyptische Chirurg Aiman al-Zawahiri. Den ersten Anschlag auf das World Trade Center verübte das Terrornetz al-Qaida im Jahr 1993. Nein, es war nicht neu, was vor zehn Jahren geschah.

Die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten hatten auch schon zuvor auf unterschiedliche Weise die Kampfansage erwidert. Sie lieferten dem Irak Waffen für den Krieg gegen den Iran. Sie stützten die autoritären Regime in Nordafrika aus Furcht, die Muslimbrüder könnten aus freien Wahlen als Sieger hervorgehen, wie 1991 in Algerien geschehen. Sie führten Krieg gegen den Irak, als Saddam Hussein mit seinem Angriff auf Kuwait die Golfregion destabilisierte.

1993 entwarf Samuel Huntingtons Buch vom "Zusammenprall der Kulturen" ein Gemälde der neuen Lage nach dem Ende des Ost-West-Konflikts: An die Stelle des Gegensatzes von kommunistischer und kapitalistischer Welt tritt darin die Konkurrenz verschiedener Kulturkreise, die sich auch in Konflikten entlädt – und eine der schärfsten Bruchlinien ist die zwischen islamischer und westlich-christlicher Kultur. Das Buch ist umstritten, Huntington selber hat es später differenziert – aber die These vom Kampf der Kulturen ist seither in der Welt.

Sichtbarer Graben

Apokalypse bedeutet: Das Verborgene wird offenbar. So gesehen war der Sturz der Flugzeuge in die Türme des World Trade Centers, ins Pentagon und in die ehemalige Kohlegrube bei Shanksville apokalyptisch. Er hat den Graben sichtbar werden lassen zwischen dem reichen, mächtigen, irgendwie christlichen Westen und dem, was man die islamische Welt nennt.

Auch das Ausmaß der – mal ohnmächtigen und mal gewalttätigen – Wut vieler Muslime auf den Westen oder auf das, was sie für den Westen halten, hat der 11. September sichtbar gemacht, ebenso wie die verbreitete Selbstwahrnehmung als Opfer imperialistischer und kolonisatorischer Mächte, auch dann, wenn das nicht stimmt, wie im Fall des reichen Saudi-Arabiens.

Demonstration auf dem Tahrir-Platz in Kairo; Foto: AP
"Arabischer Frühling" und nicht "Islamischer Frühling": Wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass eine von jungen Leuten angezettelte Revolte die Regime in Tunesien, Ägypten, gar Libyen hinwegfegen könnte – ohne dass dadurch zwangsläufig die Islamisten an die Macht kämen, wie über Jahrzehnte hinweg prophezeit?, fragt Drobinski.

​​Er hat den Mangel an Kenntnis voneinander und Dialog miteinander gezeigt. Der Anschlag der Männer, die sich im Auftrag Allahs unterwegs wähnten, hat diesen Graben vertieft und in der islamischen Welt die Fähigkeit verringert, das Abgründig-Gewalttätige in der Religion zu begreifen. Die wenigen Muslime, die es thematisierten, blieben verfemte Außenseiter.

Im Westen wiederum wurde nun ebenfalls die religiöse Aufladung des Konfliktes populär. George W. Bush, dem amerikanischen Präsidenten, ging es nicht mehr nur um die notwendige Abwehr des Terrors, sondern um den Kreuzzug gegen die "Achse des Bösen"; die Kriege in Afghanistan und gegen den Irak fanden ihre ethische Begründung in der Verteidigung der eigenen Werte gegen die neue, gefährliche Religion.

Neu und gefährlich scheint der Islam seit dem 11. September 2001 zu sein, populistische islamfeindliche Parteien und Bewegungen machen sich das zunutze. Seit 2001 erscheint der Islam als militant, rigoristisch und beängstigend kinderreich. Der Orient, die Türken – das hat nichts mehr mit dem weisen Sultan Saladin aus Lessings Nathan zu tun. Am 11. September lagen die Türken wieder vor Wien, nur schossen sie diesmal nicht mit Kanonen auf die Christen, sondern kämpften in ihrer asymmetrischen Kriegsführung eigener Heimtücke mit den Mitteln des Hinterhalts und der Demografie.

Freund-Feind-Schemata

Betrachtet man diese Freund- und Feind-, Innen- und Außen-Wahrnehmung näher, dann hat sie oft überraschend wenig mit dem richtigen Leben zu tun. Seit vierzig Jahren sind Muslime überwiegend treue Staatsbürger im Westen, mag es mit einer Minderheit auch Probleme geben. Seit Jahrzehnten wünschen sich die meisten Muslime sehr, in vergleichbarer Freiheit wie in Europa oder Amerika zu leben, wenigstens annähernd friedlich und wohlhabend, wie sehr manche in ihrer Rhetorik auch diesen Westen verteufeln mögen.

 Alexis Carrel; Foto: Library of Congress/Wikipedia
Ideologisch Inspirationen aus dem Westen: Niemanden zitierte der Ägypter Sayyid Qutb in seinen islamistischen Traktaten so häufig wie den französischen katholischen Fundamentalisten Alexis Carrel.

​​Selbst das Gebäude der Muslimbrüder steht auf den Füßen der christlich-reaktionären Kulturkritik: Niemanden zitiert Sayyid Qutb, der 1966 in Ägypten hingerichtete Gründervater des modernen Islamismus, so häufig wie den französischen katholischen Fundamentalisten Alexis Carrel, der in den dreißiger Jahren die Moderne als Barbarei beschrieb und ein System entwarf, in dem die Religion über Staat, Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur herrscht und wacht.

Es geht aber auch weniger um Wahrheitsfragen, es geht viel häufiger um Identitätsfragen, die im Christentum wie im Islam als Folge des 11. September an Bedeutung gewonnen haben. Wie finden Menschen in einer globalisierten Welt religiös und geistig ihren Platz, wie bewahren sie das Eigene und Unverwechselbare, wohin gehört die Religion? Der moderne Islam hat noch keine Antwort auf diese Fragen gefunden.

Die Aggression gegen den Westen ist auch kein Zeichen beängstigender Stärke oder gar der Überlegenheit gegenüber einem laschen Christentum, sie ist ein Zeichen der Schwäche. In der Wiederkehr des Religiösen offenbart sich aber auch die Schwäche des Christentums, das nicht mehr die selbstverständliche Religion des Westens ist.

Viele Christen – und das wiederum war ein Zeichen der Stärke – haben der Kreuzzugsrhetorik des George W. Bush widersprochen. Der kranke Papst Johannes Paul II. hat 2003 mit aller verbliebenen Kraft versucht, den Irak-Krieg zu verhindern, die meisten Kirchen in den Vereinigten Staaten sprachen sich gegen den Feldzug aus.

Es waren auch überwiegend Christen, die eine staatlich inszenierte Freude nach dem Tod Osama bin Ladens für unangebracht hielten. Der Dialog zwischen Christen und Muslimen im Westen ist um einige Illusionen ärmer, aber er ist auch ehrlicher und intensiver geworden. Islamischer Religionsunterricht in Landessprache, Lehrstühle für islamische Theologie, eine Islamkonferenz – auch das sind indirekte Folgen jenes Spätsommertags, an dem das Abgründige des Religiösen sichtbar wurde.

In Nordafrika und dem Nahen Osten fehlten solche Entwicklungen bislang weitgehend – wobei auch hier die große Mehrheit der Theologen und Religionsführer klar machte, dass es Terror im Namen Gottes aus ihrer Sicht nicht geben kann.

Doch wer hätte vor einem Jahr gedacht, dass eine von jungen Leuten angezettelte Revolte die Regime in Tunesien, Ägypten, gar Libyen hinwegfegen könnte – ohne dass dadurch zwangsläufig die Islamisten an die Macht kämen, wie über Jahrzehnte hinweg prophezeit?

"Arabischer Frühling" heißt nun, was dort geschah, nicht islamischer Frühling, auch, weil der politische Islam nur eine marginale Rolle spielte. Diese Umwälzungen könnten dem Kampf um die humane Seite der Religion mehr helfen als der Tod Osama bin Ladens, heißt es – es ist eine Hoffnung, immerhin.

Matthias Drobinski

© Süddeutsche Zeitung 2011

Redaktion: Arian Fariborz/Qantara.de