"Bis wir überflüssig sind"
Das Theater Ballhaus Naunynstraße in Berlin-Kreuzberg ist eine Institution. Errichtet im 19. Jahrhundert für Tanzveranstaltungen wird hier seit Anfang der 90er Jahre Theater gespielt. Vor zehn Jahren hat es sich das Theater neu entworfen: Mit einem degenerierten Sozistern und einem schwarzen Straßenköter als Symbol für alles Unreine und Ausgestoßene als Logo. Und darum geht es auch den Kulturschaffenden in dem Off-Theater: um Idealismus und die Beschäftigung mit den Ausgegrenzten der Gesellschaft. Denn seit zehn Jahren ist das Ballhaus Naunynstraße Experimentierstätte und Vorreiter für sogenannte "postmigrantische Kulturproduktionen".
Was das genau bedeutet, weiß die Medien- und Kulturwissenschaftlerin Onur Suzan Nobrega. Sie kuratiert die Veranstaltungsreihe "Zehn Jahre postmigrantisches Theater" im Ballhaus Naunynstraße. Künstlern und Künstlerinnen "of Colour" wurde lange Zeit die Teilhabe an der deutschen Theaterlandschaft verwehrt. Aus diesem Grund versuchte man neue experimentelle, künstlerische, narrative und politische Ansätze sowie Werkzeuge zu finden und zu etablieren, um etwa deutsch-türkischen Künstlern, aber auch denen anderen Ursprungs, diese Teilhabe zu ermöglichen und sie zu ermutigen, diese auch politisch einzufordern.
"Arroganz bürgerlicher Hochkultur"
Die Ursprünge des postmigrantischen Theaters gehen zurück auf den vom britischen Soziologen Stuart Hall geprägten Begriff der "new ethnicities", mit dem er die Kulturproduktionen (farbiger) Künstler und Künstlerinnen "OF COULOUR" im Großbritannien der 1980er Jahre beschrieb. Die generationsübergreifende kulturelle Erinnerungsarbeit des postmigrantischen Theaters ist eine Weiterentwicklung dieses Konzepts. Seitdem weht ein neuer Wind durch die deutsche Theaterlandschaft.
Der Hauptkritikpunkt der Bewegung: Die "Arroganz der bürgerlichen Hochkultur", wie sie immer wieder betont. Denn weder die inszenierten Stücke noch die Besetzungen der
Bühnenproduktionen spiegelten die deutsche Gesellschaft wider. Das bürgerliche Theater griff bevorzugt auf das Repertoire des klassischen westlichen Theaterkanons zurück. Das Migrantische wurde dabei nicht wirklich wahrgenommen. Ein grundsätzliches Interesse an der Thematik und den Perspektiven migrantisch geprägter Akteure schien gänzlich zu fehlen. Überhaupt das Interesse an einem globalisierten Teil der Gesellschaft.
Den ersten Schritt in diese Richtung machte das von der späteren Leiterin des Ballhauses Shermin Langhoff kuratierte erste postmigrantische Festival Beyond Belonging: Migration² am Hebbel am Ufer im Jahr 2006. Zwei Jahre später eröffnete Langhoff das Ballhaus als postmigrantisches Theater. Seither steht es für die kulturelle und künstlerische Vielfalt innerhalb der deutschen Theaterlandschaft.
Künstlerische Aufarbeitung von Migration
Migration hoch zwei symbolisiert die künstlerische Aufarbeitung von Migration. Und postmigrantisch bedeutet, Geschichten, die im Kontext der Migration stehen, von den neuen Deutschen erzählen zu lassen: Den Postmigranten, der zweiten und dritte Generation von Migranten, die selbst nicht eingewandert, aber auch nie richtig in der deutschen Gesellschaft angekommen sind.
Doch es geht um viel mehr als Schauspieler mit sogenanntem Migrationshintergrund auf die Bühne zu stellen. Das postmigrantische Theater hinterfragt die deutsche Theaterlandschaft prinzipiell.
Wie lassen sich diese neuen Protagonisten und ihre Erzählperspektiven dauerhaft verankern? Wie kommuniziert man mit den bisher vernachlässigten Rezipienten, also der zweiten und dritten Generation von Einwanderern, anders und besser?
Antworten auf diese Fragen werden immer wieder gesucht und neu definiert. Denn das Theater möchte nah an der gesellschaftlichen Wirklichkeit sein, aktuelle Konflikte verhandeln und politische Positionen beziehen. Fernab von Ghettotheater und klischeehaften Themen wie Zwangsheirat und Kleinkriminalität, zitiert und dekonstruiert das postmigrantische Theater gesellschaftliche Pauschalisierungen und Zerrbilder.
So thematisierte etwa "Lö Bal Almanya" von Nurkan Erpulat und Tunçay Kulaoğlu 50 Jahre deutsch-türkische Migrationsgeschichte. Die britische Theaterwissenschaftlerin Elizabeth Stewart hat sich mit dem Archiv postmigrantischer Kulturproduktionen beschäftigt. "Verrücktes Blut" von Nurkan Erpulat ist für sie ein Paradebeispiel für ein Stück, das den Aufprall von Klischees und deutscher Bildungskultur thematisiert. In einer prägnanten Szene versucht eine Lehrerin einem Schüler den deutschen Bildungskanon einzutrichtern. In ihrer Hand eine Pistole, in seiner ein gelbes Reclam-Heft mit dem Titel "Die Räuber" von Schiller.
Kluft zwischen deutschem Humanismus und der Politik der sozialen Integration
"Hier sieht man eine sehr klare Kluft: Auf der einen Seite die Rhetorik eines kulturbezogenen deutschen Humanismus und der Politik der sozialen und kulturellen Integration, die in Deutschland betrieben wurde. Also zwischen dieser Idee, dass Leute sich integrieren und etwa diesen Kanon lernen sollen. Auf der anderen Seite die Realität, die Leute erfahren haben, etwa, dass sehr lange keine Integrationsarbeit betrieben wurde. Diese eigentlich komische Kluft zwischen dem was verlangt wurde im Sinne von Integration und Assimilation und dem, was eigentlich angeboten wurde."
Das auf dem gleichnamigen Roman von Emine Sevgi Özdamar basierende Stück "Peri Kızı" andererseits dekonstruiert und spielt mit dem weit verbreiteten Klischee unterdrückter Frauen.
Einer ähnlich schwierigen Situation waren und sind Filmschauspieler ausgesetzt, weiß die in Berlin geborene türkischstämmige Schauspielerin İdil Üner. Sie begann ihre Karriere im türkischsprachigen Berliner Theater Tiyatrom, besondere Berühmtheit erlangte sie durch den Film "Im Juli" von Fatih Akın."Nach wie vor gibt es ein Schablonendenken", weiß Üner. Früher habe sie das sehr gestört. "Heute macht mich das immer noch sauer, aber ich gehe anders damit um", erzählt sie. "Wenn man sich anschaut, wie sich Hierarchien und das System bei öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern darstellen, wo es eine 0,0 Prozentquote von Entscheidern mit sogenanntem Migrationshintergrund gibt, ist es nicht verwunderlich, dass sich die Realität Deutschlands im Fernsehprogramm nicht wirklich abbildet."
Die Deutungshoheit über sich zu haben, Rollen auch ablehnen zu können, oder auch solche zu spielen, die keinen "Hintergrund" haben, sondern menschliche Geschichten, war für sie ein langer Weg. Nach 20 Jahren künstlerischem Schaffen kann sie von sich und ihren Kollegen sagen: Es war ein ständiger Kampf, doch sie haben sich Respekt verschafft.
Erkämpfen und Erobern von Räumen
Seit der Spielzeit 2013/14 ist Shermin Langhoff die erste türkischstämmige Intendantin eines deutschen Staatstheaters: dem Maxim Gorki, dem kleinsten Berlin Staatstheater, stets verschuldet, aber von "Theater heute" zum Theater des Jahres gekürt. Die künstlerische Leitung des Ballhauses hat der Brasilianer Wagner (Werner) Carvalho übernommen.
Waren es vor zehn Jahren vor allem türkisch-deutsche Perspektiven und Vertreter und Vertreterinnen, die ihre Erfahrungen auf die Bühne brachten und dann auch größtenteils von einem türkisch-deutschen Publikum rezipiert wurden, hat sich der Fokus am Ballhaus Naunynstraße unter seiner Leitung geweitet.
"Was wir hier aussagen, ist ein Erkämpfen und Erobern von Räumen. Und eine neue Art und Weise, Dinge wahrzunehmen, die vorher nicht da waren. Weil die Protagonisten jetzt die Möglichkeit haben, etwas über sich zu schreiben und zu inszenieren und zu spielen." Südamerikanische, schwarze, feministische, Queer- und Flüchtlingsperspektiven werden ebenso integriert wie das Tanztheater. Das selbsterklärte Ziel der Bewegung ist es, irgendwann obsolet zu werden. Wenn Vielfalt selbstverständlich geworden ist. Im Leben wie auf der Bühne.
Ceyda Nurtsch
© Qantara.de 2016
Die Veranstaltungsreihe "10 Jahre Postmigrantisches Theater" findet über das Jahr 2016 verteilt im Ballhaus Naunynstraße statt. Die Termine finden sich unter Ballhaus Naunynstraße.