Zwischen alter und neuer Heimat

In den Jahren 2015 und 2016 kamen rund 1,2 Millionen Flüchtlinge nach Deutschland. Wie steht es zwei Jahre nach dem Flüchtlingsherbst um die Integration dieser Neuankömmlinge? Wurden die richtigen Weichen gestellt? Eine Zwischenbilanz von Claudia Mende.

Von Claudia Mende

Rayan Malhis sitzt auf dem breiten Sofa im Wohnzimmer und strahlt. Ein 16-Jähriges Mädchen, schmal, mit Kopftuch und Zahnspange. Die Aufnahmeprüfung in die Mittelschule hätten sie geschafft, alle Drei: Sie, ihre Zwillingsschwester Rasan und die ein Jahr jüngere Raneem. Jetzt steht ihnen die Tür zum Realschulabschluss offen.

Der Krieg in ihrer Heimat Syrien hatte ihnen ohnehin schon zu viel Zeit gestohlen. Zwei Jahre lang konnten sie in Aleppo nicht zur Schule gehen. Jetzt haben alle drei Mädchen ehrgeizige Pläne. Erst die Mittlere Reife, dann Abitur. Sie wollen studieren, Apothekerin, Architektin und Biologin werden, erzählen sie in fehlerfreiem Deutsch.

Im Oktober 2015 sind sie zusammen mit ihrer Mutter Husna und ihrem kleinen Bruder Mohammed Besher, sechs, nach Deutschland gekommen. Der Vater, Annas Malhis, war schon ein Jahr zuvor von der Türkei aus über das Meer, über Griechenland und die Balkanroute ins sichere Deutschland geflüchtet. Er konnte seiner Familie ersparen, in einer Sammelunterkunft leben zu müssen. Nach der Ankunft hat zuerst eine arabische Familie, die schon lange in München lebt, alle sechs Familienmitglieder aufgenommen, bis die Formalitäten erledigt waren. Dann unterstützte sie ein Helferkreis bei der Wohnungssuche.

Jetzt wohnt die Familie in einem Neubaugebiet im Münchner Norden und versucht, sich im neuen Leben so gut wie möglich einzurichten. Die Mädchen lernen schnell, sie sind zielstrebig und motiviert.

Geflüchtete syrische Familie bei ihrer Ankunft im Grenzdurchgangslager Friedland im Landkreis Göttingen; Foto: dpa/picture-alliance
Ausgesetzter Familiennachzug: Hintergrund des Rechtsstreits ist das am 17. März 2016 in Kraft getretene Asylpaket II. Danach erhalten syrische Flüchtlinge nur noch den eingeschränkten sogenannten subsidiären Schutz, weil wegen des Krieges in Syrien dort ihr Leib und Leben in Gefahr ist. Der Familiennachzug nach Deutschland wurde für diese Betroffenen bis zum 16. März 2018 komplett aufgehoben.

Als die Familie Malhis im Herbst 2015 nach München kam, suchten hierzulande Hunderttausende Zuflucht. Rund 1,2 Millionen Menschen waren es in den Jahren 2015 und 2016. Auch wenn nicht alle von ihnen auf Dauer hier bleiben wollen, ist ihre Integration seitdem ein Dauerthema im Land. Ob die Integration gelungen ist oder nicht, wird man erst in einigen Jahrzehnten beurteilen können. Zwei Jahre nach dem Sommer der "Willkommenskultur" lassen sich aber erste Anhaltspunkte finden, ob die richtigen Weichen gestellt wurden. Wie sieht es aus mit Wohnraum, Sprachkursen und der Eingliederung in den Arbeitsmarkt?

Wohnungsmangel in den Ballungsräumen

Die allermeisten Geflüchteten durften die Sammelunterkünfte inzwischen verlassen und sich nach einer Wohnung umsehen. Es gibt aber keine verlässlichen Daten über ihre Wohnsituation. Die Familie Malhis hatte Glück, schnell etwas Passendes zu finden. Aber die angespannte Wohnsituation in den Ballungsräumen wird ein zentrales Thema der kommenden Jahre.

Menschen mit geringen Einkommen drohen angesichts der explodierenden Mieten an die Stadtränder verdrängt zu werden. Für Bewerber mit ausländisch klingenden Namen ist es besonders schwierig, wie eine Untersuchung von BR Data und Spiegel Online ergeben hat. Vor allem Männer mit arabischen und türkischen Namen scheitern häufig schon in der ersten Runde. Das ist vor allem langfristig ein Problem, wenn man die Entstehung sozialer Brennpunkte vermeiden möchte.

Alle Mitglieder der Familie Malhis haben schnell einen Sprachkurs bekommen – bis auf den kleinen Mohammed, der in den Kindergarten geht. Bei den Sprach- und Integrationskursen gibt es deutliche Fortschritte, denn der Zugang wurde gelockert und das Angebot aufgestockt.

Das neue Integrationsgesetz vom August 2016 erlaubt es Asylbewerbern aus Ländern mit sogenannter sicherer Bleibeperspektive (z.B. Syrien oder Irak) an einem Sprachkurs teilzunehmen, noch bevor ihr Asylverfahren abgeschlossen ist. Das war vorher nicht so. Aber es gibt noch zu wenig Kurse. Nach Angaben einer im März 2017 erschienenen Studie der OECD zur Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen in Deutschland fehlten in 2016 Sprachkurse für 240.000 Geflüchtete Sprachkurse. Hier besteht noch Nachholbedarf.

Schwierige Jobsuche

Wie ein Mantra wird wiederholt, dass Deutschland ausländische Fachkräfte und Auszubildende brauche. Das stimmt zwar, und die allermeisten Geflüchteten wollen auch arbeiten. Aber in der Praxis ist das nicht so einfach. Integration ist ein Marathon, kein Sprint. Im Moment passen die Qualifikationen der Neuzuwanderer nicht unbedingt mit dem zusammen, was Unternehmen suchen. Viele von ihnen werden zunächst nur einfache Arbeiten annehmen können. Bis die junge Generation ihre Ausbildung beendet hat, dauert es noch.

Wie viele der Geflüchteten aus 2015 und 2016 inzwischen einen Job gefunden haben, weiß niemand. Viele dürften sich noch in Sprach- und Qualifizierungskursen befinden, deshalb tauchen sie in den Arbeitslosenstatistiken nicht auf. Für München hat das IFO-Institut 400 Geflüchtete aus Ländern mit "sicherer Bleibeperspektive" befragt. Nach sechs Monaten Arbeitsuche hatten etwa 20 Prozent von ihnen einen Job gefunden; wie diese Arbeitsverhältnisse aussehen, dazu macht die Studie keine Angaben.

"Aus vorigen Integrationsbewegungen wissen wir, dass nach rund fünf Jahren 50 Prozent der Migranten im Arbeitsmarkt integriert sind und nach zehn bis 15 Jahren bis zu 80 Prozent einen Arbeitsplatz gefunden haben", sagt die Politikwissenschaftlerin Petra Bendel von der Universität Erlangen-Nürnberg.

Momentan gibt es noch viele Hindernisse, größte Hürde ist die Sprache. Annas Malhis, 48 Jahre, war in Aleppo Unternehmer, er betrieb zusammen mit seinem Bruder eine Firma mit zwölf Angestellten, die Textilien mit Ornamenten bestickten.

"Für das, was ich kann, gibt es in Deutschland keinen Bedarf", sagt Annas bedrückt. Aber er wolle jede Arbeit annehmen. Am liebsten hätte er mit Pflanzen zu tun. Im Moment kämpft er noch mit der Sprache. Den Abschluss für das Niveau B1, die dritte Stufe auf einer Skala von insgesamt sechs, hat er knapp um einen Punkt verfehlt. "Ich kämpfe mit der Grammatik und..." –  er sucht nach dem passenden Wort, blickt zu seinen Töchtern, die ihm aushelfen - "dem Hörverständnis".

Einen Versuch hat er noch. Nach dann hoffentlich bestandener Prüfung will er sich Arbeit suchen, irgendeine. Im Moment lebt die Familie von Grundsicherung. "Für mich ist es schwer, in Deutschland anzukommen", gesteht er. "Ich bin wegen meiner Töchter hier." Für die Ausbildung der Mädchen machen die Eltern alles.Bis Annas eine Arbeit gefunden hat, gibt der Staat ein Menge Geld für die Familie und die vielen anderen Geflüchteten aus, die noch nicht auf dem Arbeitsmarkt vermittelt werden konnten. Für Ökonomen ist dieses Geld gut investiert. Laut Institut der Deutschen Wirtschaft hat Deutschland im vergangenen Jahr knapp 18 Milliarden Euro für die in 2015 und 2016 ins Land Geflüchteten ausgegeben. Die Ausgaben belasten den Staatshaushalt, aber sie tragen auch zum Wachstum der Wirtschaft bei. Neue Lehrer müssen eingestellt und Unterkünfte gebaut werden.

In einem Dschungel an Vorschriften

Für Petra Bendel gibt es noch einen anderen Aspekt: "Was der Staat für die Geflüchteten ausgegeben hat, etwa Investitionen in Kitas und Schulen oder Angebote zur Qualifizierung auf dem Arbeitsmarkt, kommt allen Bürgern zugute."

Fachleute klagen, dass Geflüchteten teilweise der Zugang zum Arbeitsmarkt unnötig erschwert wird. Das betrifft nicht Flüchtlinge wie die Familie Malhis. Ihr Asylgesuch wurde schnell anerkannt, daher gibt es keine Beschränkungen für sie. Bei Geflüchteten, die lediglich in Deutschland geduldet sind, ist das anders. Wer von ihnen ab wann und unter welchen Bedingungen arbeiten darf, ist in einem Dschungel an Vorschriften geregelt, den selbst Experten kaum durchschauen.

Problematisch ist auch noch etwas anderes. Das neue Integrationsgesetz hat Geflüchtete in zwei Kategorien eingeteilt. Wem eine sogenannte "gute Bleibeperspektive" bescheinigt wird, der erhält einiges an Unterstützung. Anders sieht es bei der zweiten Gruppe von Geflüchteten aus, jenen "ohne gute Bleibeperspektive".

Gefahr der Ausbeutung

Erfahrungsgemäß werden auch viele von ihnen zumindest Jahre in Deutschland bleiben. Doch sie haben keinen Anspruch auf integrationsfördernde Maßnahmen. Hier besteht die Gefahr, dass eine Gruppe von Menschen im Land lebt, die bei illegalen oder prekären Jobs ausgebeutet wird.

In den öffentlichen Debatten stehen meist kulturelle und religiöse Aspekte der Zuwanderung im Mittelpunkt. Für die Integration ist aber viel entscheidender, ob die Geflüchteten eine befriedigende Arbeit finden, Kontakt zu Nachbarn haben und so etwas wie ein Zuhause finden.

Auch Familie Malhis empfindet Deutschland als anders. Husna, die schüchterne 36-jährige Mutter der Familie, findet es befremdlich, dass in Deutschland die meisten Mütter berufstätig sind. Kontakte zu deutschen Müttern hat sie bisher nicht. Sie bleibt lieber zu Hause, fühlt sich trotz Sprachkurs unsicher und lässt ihren Mann in den türkischen Läden einkaufen.

Das heißt aber nicht, dass sie Deutschland ablehnt. Sie ist auch knapp zwei Jahre nach ihrer Ankunft in München unendlich dankbar für die Bildungschancen, die ihre Töchter hier erhalten. Aber noch lieber wäre es ihr, sie könnten alle nach Syrien zurückkehren. Nach Aleppo, wo noch Teile der Familie leben.

Während sich ihre Töchter in zehn Jahren mit einem Universitätsabschluss am Beginn einer erfolgversprechenden Karriere sehen, ist die Elterngeneration zerrissen zwischen der zerstörten alten und der fremden, neuen Heimat.

Claudia Mende

© Qantara.de 2017