Die „Revolution des Lächelns“ geht weiter

Die Corona-Pandemie hat den Massenprotesten für mehr Demokratie in Algerien ein jähes Ende bereitet. Im Schatten der Gesundheitskrise geht die neue algerische Regierung hart gegen unliebsame Oppositionelle und Aktivisten vor. Kann die neue Verfassung an dieser Situation etwas ändern? Elisa Rheinheimer-Chabbi hat darüber mit dem algerischen Menschenrechtsaktivisten Rabah Arkam gesprochen.

Von Elisa Rheinheimer

Herr Arkam, vor wenigen Tagen ist in Algerien eine neue Verfassung in Kraft getreten. Bedeutet diese einen Schritt hin zu mehr Demokratie im Land?

Rabah Arkam: Die neue Verfassung ist nicht mehr als eine demokratische Fassade. Das algerische Volk hat diese Verfassungsrevision deshalb mit großer Mehrheit abgelehnt, indem es den Wahlurnen ferngeblieben ist. (Anmerkung der Redaktion: Nur 23,7 Prozent der Wahlberechtigten hatten in einem Verfassungsreferendum im November 2020 ihre Stimme abgegeben.) Die neue Verfassung drückt den Willen des algerischen Regimes aus, eine langfristige, autoritäre Macht zu etablieren. Die Algerierinnen und Algerier aber verlangen, dass die alten Eliten die Macht abgeben. Nur so kann ein echter demokratischer Übergang gestaltet werden.

Was ist an der neuen Verfassung besonders problematisch?

Arkam: Seit der Unabhängigkeit Algeriens im Jahr 1962 liegt die Macht in den Händen der Militärs. Der Ursprung der Probleme in meinem Land liegt deshalb nicht in der Verfassung begründet, sondern in einer Legitimitätskrise der politischen Macht.



Sehen Sie denn auch Verbesserungen?

Arkam: Nein. Die aktuelle Situation ist schlimmer als zuvor. Jeden Tag werden Aktivisten von den Sicherheitsdiensten vorgeladen, das Regime verschärft den Ton. Willkürliche Verhaftungen sind in den vergangenen Monaten um ein Vielfaches angestiegen. Algerierinnen und Algerier werden verhört, geschlagen, beleidigt, gedemütigt und dann vor Gerichte gestellt, die sie ohne Rücksicht auf irgendeinen Artikel der alten oder neuen Verfassung zu Haft- und Geldstrafen verurteilen.

Die algerische Zeitung Liberté veröffentlichte 2019 einen Vorentwurf für eine Bürgercharta, in der 160 algerische Intellektuelle Verfassungsartikel vorschlugen. Wurden Teile dieses Entwurfs in der neuen Verfassung berücksichtigt?

Arkam: Zunächst muss man wissen, dass das Regime die intellektuelle Elite Algeriens an den Rand drängt. Aber auch das Volk ist zweigeteilt. Die Bürgercharta schlägt etwa Artikel zu Gewaltenteilung, Gleichheit der Geschlechter, Achtung der Menschenrechte sowie Freiheit der Religionsausübung und des Gewissens vor, verbunden mit einer Nicht-Politisierung der Religion. All das müssten die Fundamente des neuen Algeriens werden, heißt es in der Charta. Dem stimmen aber nicht alle zu; einige sehen in der Charta einen Angriff auf die Werte und die Grundlagen Algeriens. Für sie stellt der Islam ein unantastbares Element algerischer Identität dar.

Algerien Algiers | Referendum über Verfassung; Foto: Ryad Kramdi/AFP/Getty Images
Referendum über die neue algerische Verfassung im November 2020. Die neue Verfassung sei nicht mehr als eine demokratische Fassade, meint der Menschenrechtler Rabah Akram. Deshalb habe das algerische Volk sie mit großer Mehrheit abgelehnt, indem es den Wahlurnen ferngeblieben ist. Nur 23,7 Prozent der Wahlberechtigten hatten ihre Stimme abgegeben. Akram sieht in der neuen Verfassung vor allem einen Ausdruck des Willens des algerischen Regimes, eine langfristige, autoritäre Macht zu etablieren. „Die Algerierinnen und Algerier aber verlangen, dass die alten Eliten die Macht abgeben. Nur so kann ein echter demokratischer Übergang gestaltet werden.“

Spaltung des "Hirak" in Säkulare und Islamisten



Hunderttausende im ganzen Land hatten sich bis Frühjahr 2020 der Protestbewegung "Hirak" angeschlossen. Dann kamen die wöchentlichen Demonstrationen aufgrund der Pandemie zum Erliegen. Kann der Hirak weiterhin Menschen mobilisieren?

Arkam: Leider entsteht bisweilen der Eindruck, der "Hirak" (arabisch für Bewegung) sei schwach, ineffektiv und machtlos. Dieses Gefühl der Ohnmacht angesichts einer vermeintlichen Unverwundbarkeit des Systems macht das Entstehen einer effektiven Opposition unwahrscheinlich. Die derzeitige Situation erlaubt keine große Mobilisierung der Bürger, erstens wegen der Pandemie und zweitens wegen der unterschiedlichen Standpunkte innerhalb des "Hirak".



Es handelt sich hier um eine vielschichtige Bewegung ohne ausdrückliche Führung. Außerdem ist sie zwischen Progressiven und Konservativen, Säkularen und Islamisten gespalten. Diese Spaltung könnte den "Hirak" gegenüber dem Regime schwächen. Hinzu kommt, dass darüber gestritten wird, ob die Demonstrationen wieder aufgenommen werden sollten.

Wird das Ihrer Einschätzung nach geschehen?

Arkam: Ich vermute, dass es wieder zu Demonstrationen kommen wird, ja.  Das algerische Regime hat den Ausbruch der Pandemie im Land genutzt, um die Jagd auf politische Gegner, Journalisten und Aktivisten der "Hirak"-Bewegung zu intensivieren. Dennoch haben die Menschen im Spätsommer und Frühherbst, als sich die Infektionslage vorübergehend zu beruhigen schien, wieder demonstriert, vor allem in den Regionen Kabylei, Oran, Algier, Tlemcen, Ouargla und Biskra. Das zeigt: Niemand kann das algerische Volk aufhalten. Es ist entschlossen, seinen friedlichen Kampf für Veränderung fortzusetzen.


Algerien Journalist Khaled Drareni; Foto: Picture Alliance/AP Photo/Str
Das algerische Regime verschärft den Ton und geht gegen Aktivisten, Journalisten und Oppositionelle vor. Hier der algerische Journalist Khaled Drareni, der im August 2020 zu drei Jahren Haft verurteilt wurde, weil er über die Hirak-Protestbewegung berichtet hat. „Willkürliche Verhaftungen sind in den vergangenen Monaten um ein Vielfaches angestiegen,“ sagt der Menschenrechtler Rabah Arkam. „Algerierinnen und Algerier werden verhört, geschlagen, beleidigt, gedemütigt und dann vor Gerichte gestellt, die sie ohne Rücksicht auf irgendeinen Artikel der alten oder neuen Verfassung zu Haft- und Geldstrafen verurteilen.“

Angesichts der verheerenden wirtschaftlichen Lage, der politischen Repressionen und der Pandemie sind Verzweiflung und Frustration vieler Algerier verständlich. Meinen Sie, dass sich Teile der Demonstranten radikalisieren könnten?

Arkam: Das erwarte ich nicht. Es ist Ziel des Regimes, dass die friedlichen Proteste gewalttätig werden. So hätte es ein Alibi, um noch härter gegen die Demonstranten vorgehen zu können. Aber die Algerierinnen und Algerier haben eine überraschende Reife gezeigt und lassen sich nicht provozieren. Innerhalb des "Hirak" ist es Konsens, dass die Demonstrationen weiterhin einen friedlichen Charakter haben müssen.

Das algerische Volk hat aus der Vergangenheit gelernt. Nun versucht das Regime, den "Hirak" weg von seinen politischen hin zu sozialen Forderungen zu drängen. Die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Covid-19-Krise kommen der Machtelite dabei zugute.Das Regime heizt regionale Gegensätze an

Welches sind die größten Hindernisse auf dem Weg zur Demokratisierung Algeriens?

Arkam: Die Armee muss sich dem Willen des Volkes beugen und ihre Macht an zivile Autoritäten abgeben. Das Regime muss die Unterdrückung politischer Gegner sofort beenden. Außerdem ist die bedingungslose Freilassung all jener, die aus Gewissensgründen im Gefängnis sitzen, wesentlich für jeden Fortschritt.

Hinzu kommt: Das algerische Regime hat jahrelang alles getan, um Misstrauen in den Herzen der Menschen zu säen und die Gesellschaft ethnisch zu entzweien. Anstatt in den Aufbau einer Nation zu investieren, hat die herrschende Elite dafür gesorgt, das Stammesdenken aufrechtzuerhalten. „Spalte, um besser herrschen zu können“, lautete das Leitmotiv. Das macht die Gegensätze zwischen den einzelnen Regionen zu einer der größten Hürden für die Demokratisierung.

 

 

In der Protestbewegung sind die Algerier aber ungeachtet ihrer regionalen Unterschiede zusammengekommen…

Arkam: Ja, und deshalb malt das Regime jetzt erneut das Schreckgespenst des inneren Feindes an die Wand, indem es die Kabylei stigmatisiert. Da in dieser Region seit Jahren häufig protestiert wird, beschuldigt es die Kabylen, die Quelle allen Übels zu sein.



Was sollte sich innerhalb des "Hirak" ändern?

Arkam: Der "Hirak" braucht eine Führungspersönlichkeit mit einer starken demokratischen Opposition hinter sich, die die Schwächen des Regimes genau kennt, um dieses System radikal zu verändern oder es aufzulösen. Denn trotz seiner scheinbaren Stärke weist dieses diktatorische Regime Schwächen auf, wie etwa institutionelle Ineffizienz und persönliche Rivalitäten. Mit der Zeit könnten diese Schwächen dazu führen, das Regime anfälliger für Veränderungen zu machen.

Wie kommt es, dass sich die Welt nicht für die algerische „Revolution des Lächelns“, wie Sie sie nennen, zu interessieren scheint – anders als etwa für Bürgerproteste in Hongkong oder Belarus?

Arkam: Mächtige Staaten sorgen sich vor einer Destabilisierung des algerischen Regimes und insbesondere wohl vor Migrationsströmen, die darauffolgen könnten. Hinzu kommt: Für Europa ist es sehr viel leichter, eigene wirtschaftliche Interessen durchzusetzen, wenn man es mit einem Regime zu tun hat, dem es an Legitimität mangelt. Das ist günstiger als eine Regierung, die gegenüber dem Volk rechenschaftspflichtig ist.



Was in Algerien geschieht, hat direkte Auswirkungen auf den gesamten Maghreb, den Mittelmeerraum und die Sahelzone. Das algerische Regime glaubt nicht an den Wandel, es weigert sich, auf das Volk zu hören. Algerierinnen und Algerier werden daher die Unterstützung aller fortschrittlichen und revolutionären Kräfte der Welt brauchen.

Würden Sie angesichts der Ignoranz im Westen von einer vergessenen Revolution sprechen?

Arkam: Eine militärisch-oligarchische Elite hat dem algerischen Volk seine Freiheit und Unabhängigkeit gestohlen. Sie unterdrückt das Volk seit Jahrzehnten und sorgt dafür, dass die Algerierinnen und Algerier verarmen. Aber diese Revolution wird nicht in Vergessenheit geraten, denn sie hat ein Band der Brüderlichkeit zwischen den Menschen geknüpft, das durch Debatten auf den Straßen, auf öffentlichen Plätzen und in den sozialen Netzwerken gefestigt wurde. Und: Vergessene Revolutionen tendieren dazu, zurückzukehren.



Interview: Elisa Rheinheimer-Chabbi

© Qantara.de 2021

Rabah Arkam ist ein berberisch-algerischer Menschenrechtsaktivist und Ingenieur, der heute in den USA lebt. Er stammt aus der Region Kabylei.