Proteste gegen drohenden Hunger

Die meisten Lebensmittel erleben eine Preiserhöhung unbekannten Ausmaßes. Niemand weiß, was am nächsten Tag teurer wird, deshalb horten die Menschen alles, was ihnen noch preiswert erscheint.
Die meisten Lebensmittel erleben eine Preiserhöhung unbekannten Ausmaßes. Niemand weiß, was am nächsten Tag teurer wird, deshalb horten die Menschen alles, was ihnen noch preiswert erscheint.

Nachdem die Regierung Subventionen für Lebensmittel gestrichen hat, explodieren die Preise im Iran. Proteste dagegen begannen in der Provinz Khuzestan und erreichen nun immer mehr Teile des Landes. Von Sepehr Lorestani

Von Sepehr Lorestani

In den vergangenen zwei Wochen hat Irans Regierung zwei Maßnahmen ergriffen, für die sie monatelang geworben hatte. Am 7. Mai wurde bekanntgegeben, dass iranische Staatsbürger, die staatliche Hilfe als Gegenmaßnahme für die hohe Inflation im Land benötigen, für zwei bis drei Monate jeweils 300.000 bis 400.000 Toman (etwa 8 bis 12 Euro) erhalten werden. Diese staatliche Leistung soll nach offiziellen Angaben 23 Millionen Familien und damit mehr als 72 Millionen der insgesamt 85 Millionen Iranerinnen und Iraner zugute kommen.

Das Hilfspaket soll Preiserhöhungen kompensieren, die durch die Abschaffung des "bevorzugten Wechselkurses“ entstehen. Diesen Kurs hatten frühere Regierungen für Importeure von Grundnahrungsmitteln festgelegt. Nach diesem offiziellen Wechselkurs kostete ein US-Dollar bis zum 10. Mai 4.200 Toman, während er auf dem freien Markt gegen 30.000 Toman getauscht wird.

Nun hat die Regierung den "bevorzugten Wechselkurs" abgeschafft. Importeure müssen sich die Devisen für Einkäufe im Ausland jetzt auf dem freien Markt besorgen. Der wichtigste Grund für diese problematische Maßnahme: In den Vorjahren nahmen viele Importeure den Sonderkurs in Anspruch, importierten jedoch nicht die Waren, für die sie die billigen Devisen erhalten hatten. Stattdessen handelten sie mit profitableren Luxuswaren.



Viele von ihnen nahmen sogar große Kredite auf, um das Geld nach dem Vorzugskurs in Devisen zu tauschen und diese dann gewinnbringend auf dem freien Markt zu verkaufen, ohne überhaupt etwas einzuführen. Manche horteten die billigen Dollar und Euro auf ihren Auslandskonten. Die Regierung hat dagegen kaum etwas unternommen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die meisten dieser Übeltäter den Machtzirkeln der Islamischen Republik nahestehen.

Straßenproteste in Shiraz gegen Benzinpreiserhöhungen 2019; Foto: picture-alliance/abaca/Salampix
Bereits in 2019 gab es im Iran landesweite Proteste wegen Preiserhöhungen, damals bei Benzin. Hier ein Foto von Demonstrationen in der Stadt Shiraz. Wegen der anhaltenden Wirtschaftskrise hatte die iranische Regierung Benzin rationiert und zugleich die zuvor stark subventionierten Preise für Kraftstoff um mehr als 50 Prozent erhöht. Schon damals ging der Protest gegen die Preiserhöhung schnell in politische Slogans gegen die Regierung und den Obersten Führer Ali Chamenei über. Die Sicherheitskräfte schlugen die Proteste brutal nieder und erschossen damals vermutlich rund 1500 Menschen, Tausende wurden inhaftiert.

Die Bevölkerung solle sich auf Preiserhöhungen einstellen

Am 10. Mai sprachen Regierungsverantwortliche in separaten Sendungen des staatlichen Fernsehens über die Erhöhung der Preise für Grundnahrungsmittel. Sie alle betonten, dass die Preise für Brot, Kraftstoffe und Medikamente stabil bleiben würden. Irans Innenminister Ahmad Vahidi kündigte an, dass die Preise für Eier, Geflügel, Speiseöl und Milchprodukte steigen würden, da die Hersteller oder Importeure dieser Produkte bisher staatliche Subventionen bekommen hätten – unter anderem durch den "bevorzugten Wechselkurs".

Diese Subventionen fielen nun aus, die Bevölkerung solle sich daher auf eine "angemessene Erhöhung“ der Preise für diese Lebensmittel einstellen, erklärte Vahidi. Eine staatliche Hilfe von etwa zehn Euro im Monat werde Ausgleich schaffen. Was Vahidi noch versprach: "Es gibt keinen Grund, dass andere Produkte teurer werden.“ Der Innenminister verbot es den Betreibern von Taxen und öffentlichen Verkehrsmitteln, die Fahrpreise zu erhöhen.

Doch es war zu spät. Bereits die Ankündigung der Abschaffung von Subventionen für bestimmte Lebensmittel hatte vor Wochen für stetige Preissteigerungen gesorgt. Am 5. Mai zitierte IRIB-News, die Nachrichtenseite des staatlichen Rundfunks, einen Bürger mit den Worten: "Die Streichung der Subventionen für Mehl hat auch andere Produkte verteuert. Bis vor einer Woche kauften wir Fladenbrot für 600 Toman pro Kilo, jetzt müssen wir 3.000 Toman bezahlen. Eine Packung Nudeln kostete 8.000 Toman, jetzt zahlen wir 28.000.“

Die Preise für die meisten Lebensmittel steigen in bisher unbekanntem Ausmaß. Niemand weiß, was am nächsten Tag teurer wird, deshalb horten die Menschen alles, was ihnen noch preiswert erscheint. Ein Video, das gerade im Internet die Runde macht, zeigt das Elend: Menschen "plündern“ einen Supermarkt – angeblich in der Stadt Ghazvin. Man kann nicht erkennen, ob sie den Laden wirklich ausplündern oder ob sie die Sachen, die sie hastig in Plastiktüten stecken, kaufen wollen.

Eine neue Protestwelle

Die Regierung schiebt die Inflation hauptsächlich auf den Krieg in der Ukraine und die wirtschaftliche Flaute durch die Corona-Pandemie. Auch die Vorgängerregierung sei schuld an der Misere, sagte kürzlich Präsident Ebrahim Raissi. Seit Jahrzehnten warnen Experten vor der Fortführung der "revolutionären Wirtschaft“, die den Iran in die internationale Isolation geführt hat.

Staatsoberhaupt Ali Chamenei nennt die am Rande des Ruins stehende iranische Wirtschaft einen "wirtschaftlichen Widerstand“ gegen den Westen und Israel. Das hat in den letzten Jahrzehnten zu verheerenden Sanktionen gegen den Iran geführt, die hauptsächlich die Bevölkerung treffen, nicht die finanziell mächtigen Ayatollahs und ihre Institutionen.

Die Folgen waren und sind Proteste ärmer Bevölkerungsteile, von Arbeiterinnen, Lehrern, Rentnerinnen und anderen Benachteiligten der Gesellschaft, die fast wöchentlich stattfinden. Auch zwei landesweite Proteste 2017 und 2019 mit zahlreichen Toten, Verletzten und Inhaftierten konnten das Regime nicht dazu bringen, die Feindschaft gegen den Westen endlich aufzugeben und an die eigene Bevölkerung zu denken.

 

Die #Proteste im #Iran gegen enorme Teuerungsrate und Verarmung hat in Provinz #Khuzestan begonnen und breitet sich aus. Hier ein Video aus Provinz Chahar-Mahal Bakhtiari Gesternabend. Eine der Parolen: Die Mullahs müssen verschwinden! #خوزستان https://t.co/lCVRnUSETs

— Iran-Journal (@iran_journal) May 13, 2022

 

 

Die neue Protestwelle ist schon im Gang. Sie begann am 10. Mai in der Provinz Khuzestan und erreicht langsam andere Landesteile. Die amtliche iranische Nachrichtenagentur IRNA bestätigte am 12. Mai, dass in verschiedenen Städten des Landes Proteste stattfänden und Demonstranten festgenommen worden seien.

Laut IRNA wurden die Proteste beendet. Doch noch am selben Abend gingen Menschen in den Städten Fashapooyeh, Andimeshk, Dezful, Izeh, Dorud, Shahrekord und Yasuj auf die Straße und skandierten Parolen gegen das Regime. Die Kundgebungen beginnen als Proteste gegen steigende Lebensmittelpreise und werden schnell politisch. In Videos in den sozialen Netzwerken hört man Sprechchöre gegen Staatsoberhaupt Chamenei und Präsident Raissi. Es sind auch Warnungen der Sicherheitsbeamte und in einigen Fällen Schüsse zu hören. Laut IRNA wurden allein in Dezful 15 Demonstrantinnen und Demonstranten sowie in Yasuj sieben Personen festgenommen.

Doch ob diese Maßnahmen die Proteste beenden, ist mehr als fraglich. Denn die Preise werden weiter steigen und die Armen werden auf die Straße gehen. Die halbstaatliche Nachrichtenagentur ILNA, die sich auf Themen wie Arbeitsrechte spezialisiert hat, schrieb am 5. Mai: "Die Löhne der Arbeiterinnen und Arbeiter sind in diesem Jahr um 57 Prozent gestiegen, aber in den letzten zwei Monaten betrug der durchschnittliche Anstieg der Preise allein bei Lebensmitteln mehr als 200 Prozent. Das bedeutet einen Rückgang der Reallöhne um 150 Prozent.“

Der mächtige Ayatollah und Freitagsprediger der Hauptstadt Teheran, Ahmad Chatami, verglich am vergangenen Freitag die iranische Wirtschaft mit einem kranken Menschen und nannte die Maßnahmen der Regierung "dringend nötige Operationen“. Die Operationen seien schmerzhaft, doch sie würden den Kranken heilen. Er ließ jedoch den Auslöser der "Krankheit“ aus, nämlich die Feindschaft der regierenden Islamisten gegenüber allem Unislamischen. Solange es dafür kein Gegenmittel gibt, wird die iranische Wirtschaft und damit die Mehrheit der Iranerinnen und Iraner leiden müssen.

Sepehr Lorestani

© Iran Journal 2022

Übertragen aus dem Persischen und überarbeitet von Farhad Payar

Sepehr Lorestani ist das Pseudonym eines iranischen Journalisten.